Hinweis: am Ende sind noch ein paar Bilder!

  - Anmerkung -

Irgendwann ergibt sich ein - oft zufälliger - Anlass, den Blick auf Vergangenes zu werfen und mal auszuloten, was sich da so alles angesammelt hat an Dokumenten, Bildern, Objekten, Dias, Erinnerungen und manch Anderem, und plötzlich steht man vor einem unüberwindbar scheinenden Berg von unzähligen Fragmenten aus all diesen Bereichen - allein etwa 32000 Bilder hat „Picasa“ gefunden.

Nach dem ersten Erstaunen - möglicherweise auch Erschrecken - erhebt sich als Nächstes die Frage: Was soll ich damit anfangen?

Wenn man sich dann nach reiflicher  Überlegung dazu entschlossen hat, doch manches irgendwie zu "retten", beginnt sofort der quälendste Akt dieses Vorhabens: ein unablässig Entscheidungen verlangendes Abwägen, des Sortierens, Aussonderns, Qualifizierens, Gewichtens und Bewertens.

Ob die nach diesen Kriterien letztendlich entstandenen Kompromisse den ursprünglichen Qualitätsansprüchen gerecht werden, ist schwer zu beurteilen; es bleiben immer Zweifel.

Ich habe mich aber jetzt einfach mal entschlossen, ein paar Dinge aufzuschreiben und hoffe, dass doch nicht alles umsonst ist.

Was soll letztendlich mit all dem passieren?

Die Antwort auf diese Frage dürfte sich aus dem Schicksal alles Irdischen ergeben.

                                                                                       Januar 2019

 

- Anfang -

 

Ich denke, es gab nicht viele Kinder in Sulzfeld - wenn überhaupt - die im Kriegsjahr 1940 und auch später in einem Krankenhaus in Karlsruhe das Licht der Welt erblickten.      

Es gab Hebammen in Sulzfeld, und die Geburt zuhause war in dieser Zeit der Normalfall.

Wie meine Mutter es schaffte, einen Herrn Brüstle aus Kürnbach kennen zu lernen und ihn zu bewegen - er hatte als einer der Wenigen damals ein Auto - sie mit ihrem dicken Bauch am 14.9. nach Karlsruhe zu chauffieren, weiß ich heute noch nicht.

War sie ihm irgendwann irgendwo zufällig begegnet? Hatte sie gezielt nach einer Fahrgelegenheit nach Karlsruhe gesucht?           

Wie hatte sie das Krankenhaus gefunden, und wie hatte sie Kontakt aufgenommen - ohne Telefon und Internet?

Antworten auf diese Fragen wird es nicht mehr geben.

Auf jeden Fall erblickte ich am Sonntag, 15.9.1940, um die Mittagszeit das Licht der Welt, zunächst sicher nur den Schein einer 60-Watt-Birne.

(Nach ihrer Schilderung muss sie in der Nacht zuvor unter starken Wehen gelitten haben, aufgrund der ersten Bombenangriffe muss aber im Krankenhaus Chaos gewesen sein, so dass sie vergeblich um Hilfe gerufen hatte).

Als nun das Knäbchen auf der Welt war, verweigerte es aber immer noch den Kontakt zu derselben; es atmete nicht.

Erst nach einigen forschen Klatschern auf das Hinterteil - mit dem Kopf nach unten hängend und durch kräftige Hände an den Beinen gehalten - bequemte es sich zu den ersten schreienden Lebenszeichen; ob man sie als Zustimmung oder Protest werten soll, wird wohl nie herauszufinden sein.

Genau so wenig weiß ich, wie lange sie mit mir im Krankenhaus war, ob sie Besuch hatte und wie sie wieder nach Hause kam.

Jedenfalls konnten wir anfangs bei ihrer Schwester Alma in Sulzfeld wohnen; diese besaß ein kleines Haus in der Bachstraße.

Alma hatte eine einjährige Tochter (Heidi), ihr Mann Christian war wie mein Vater ebenfalls im Krieg.

Schon nach einigen Wochen hatte sie eine Zweizimmerwohnung im Obergeschoss des Hauses Nr.7 in der Neuen Bahnhofstraße gefunden und war mit mir umgezogen.

Die Gründe für diesen Wohnungswechsel sind mir nicht bekannt; möglicherweise war es zu eng geworden in dem Haus in der Bachstraße, vor allem, wenn Christian und mein Vater Gottlob für ein paar Tage von der Front zurückkamen.

Das Haus in der Neuen Bahnhofstr.7 sollte dann für 28 Jahre mein Zuhause sein.

Mein Vater Gottlob Mayer hat in meinem Leben keine Rolle gespielt. Ich habe mich mit seiner Person immer nur sehr oberflächlich befasst - wenn überhaupt.

Persönlich sind mir nur zwei Ereignisse bewusst, beide mit negativen Begleiterscheinungen.

Es muss um 1943 gewesen sein, als er auf Heimaturlaub zurückkam und mir ein Dreirad mitbrachte.

Auf der Straße vor dem Haus Nr.7 fanden die ersten Tretversuche statt, die allerdings nicht seiner Vorstellung entsprachen, denn er schimpfte mit mir und nahm mir das Dreirad* wieder weg.

Eine weitere schmerzliche Erinnerung - in wörtlichem Sinne - war diese:      

Immer wenn er nach Hause kam, klebte er mit Hansaplast meine Ohren so eng wie möglich nach hinten an die Kopfhaut.

Diese Prozedur vollzog er jeden Tag, so lange, bis er wieder in den Krieg zog.

Über die Gründe für diese doch beinahe abartige und schmerzhafte Maßnahme kann ich nur spekulieren. Ich denke, dass er der Meinung war, dass ich mit meinen - minimal - abstehenden Ohren in späteren Jahren nicht dem Prototyp eines Nationalsozialisten entsprechen und so ein Schandfleck in einem Reich sein könnte, das doch 1000 Jahre halten sollte - mindestens.

*Später entpuppte ich mich als Meister auf diesem kleinen Gefährt, sehr zum Leidwesen von Sophie, der Frau unseres Vermieters Karl Himmel, denn ich fuhr stundenlang kreuz und quer durch unsere Küche/unser Wohnzimmer und erst, wenn ihr Klopfen mit dem Strupfer an die Zimmerdecke immer noch keinen Erfolg zeitigte, kam sie nach oben und nahm mir das Dreirad weg. Meistens brachte sie es aber kurze Zeit später wieder, begleitet von nicht allzu ernst gemeinten Ermahnungen. Sie war eine gute Frau, die viel zu früh sterben musste.

Gottseidank kam es nicht dazu - 12 Jahre waren schon 12 zu viel.

In seiner Uniform und mit seinem Säbel muss er eine imposante Erscheinung gewesen sein, wie ich oft später in Sulzfeld und in seiner Heimatgemeinde Sternenfels von vielen bestätigt bekam.

Er war 1912 in Sternenfels zur Welt gekommen und schlug sich nach Abschluss der Volksschule mit Gelegenheitsarbeiten durch (eine Zeit lang arbeitete er in einer Filiale der Hohner-Werke in seinem Dorf).

Hitler und seine Nazis müssen ihn fasziniert haben, so dass 1933 sein Eintritt in die Wehrmacht als "Zwölfender" nicht verwundert (oder wollte er doch nur der Arbeitslosigkeit entkommen?).

Er muss meine Mutter sehr geliebt haben; aus seinen vielen Briefen von der Front ist zwischen den Zeilen eine tiefe Zuneigung zu spüren. Immer wieder spricht er ihr Trost zu und ermuntert sie, doch standhaft zu bleiben, auch im Vertrauen auf den Führer. Sicherlich wusste er, wie schwer es für sie war, zwei Kinder - im September 1942 wurde meine Schwester Elke geboren - in einer Umgebung zu versorgen und großzuziehen, in der der alltägliche Mangel immer mehr das Leben erschwerte.

Im November 1944 stand ein Mann vor unserer Tür, dem sogar ich mit meinen vier Jahren auf Anhieb ansah, dass er nichts Gutes brachte.

Den Brief, den er wortlos meiner Mutter übergab, habe ich heute noch.                

Es war das einzige Mal, dass ich meine Mutter zusammenbrechen sah; die Erinnerung an ihr Schluchzen und Weinen hat mich viele Jahre begleitet.

Er war in Belgrad ums Leben gekommen.

Zwei Versionen über seinen Tod wurden mir unterbreitet:

Ein Mann aus Zaberfeld, der ihn gekannt hatte und der nach dem Krieg wieder nach Hause kam, erzählte mir, dass mein Vater während eines nächtlichen Kontrollganges in den Straßen von Belgrad  

aus einem Keller heraus von Partisanen erschossen wurde.

Meine Mutter erzählte mir, dass er wieder mal im Lazarett lag und bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Er sei bereits in Sicherheit gewesen, entschloss sich aber dann, den Bunker zu verlassen und beim Transport von kranken Kameraden aus ihren Zimmern zu helfen. Dabei sei er dann gestorben.

Ich tendiere zur ersten Version, habe dabei aber Angst, meinem Vater Unrecht zu tun.

Meine Mutter könnte mit ihrer Schilderung - möglicherweise unbewusst - die Absicht gehabt haben, in ihrem Sohn den Vater als Heros zu verankern, sein Bild zu idealisieren.

Ich habe sie später oft zu einem Besuch seines Grabes in der Nähe von Belgrad zu überreden versucht - ohne Erfolg. Gründe dafür nannte sie nie.

Meine Mutter Frieda (oft auch Fridl genannt) wurde 1914 in Ochsenburg geboren und wuchs zusammen mit zwei älteren Schwestern auf, Alma und Rosa, wobei letztere - wie es ich erst achtzig Jahre später herausstellen sollte - einen anderen Vater hatte.          

Ihre Eltern Julius und Anna Wezstein mühten sich in Ochsenburg mit einer kleinen Landwirtschaft durchs Leben; im Winter verdingte sich der Vater als Steinhauer in den Mühlbacher Steinbrüchen, um durch seinen Lohn die finanzielle Situation etwas zu entspannen.

Wie mir später viele ihrer Schulfreunde bestätigten, galt sie in der Schule als "gescheit“; der Lehrer übertrug ihr in seiner Abwesenheit kleinere Aufgaben.

Nach der siebenjährigen Schulzeit bekam sie eine Arbeitsstelle bei der Textilfabrik "Bleyle“ in Brackenheim.

Zehn Jahre lief sie jeden Tag früh am Morgen die zwei Kilometer zum Bahnhof nach Zaberfeld hinunter und abends wieder zurück - im Winter wie im Sommer; das Zabergäu-Dampfbähnle verband Zaberfeld mit Lauffen.

Den noch von damals vorhandenen Bildern nach, dürfte sie ihren späteren Mann Gottlob Mayer etwa im Alter von 18 Jahren kennengelernt haben.

Um die Jahreswende 1939/40 muss sie schwanger geworden und zu ihrer Schwester Alma nach Sulzfeld gezogen sein.

Was weiß ich noch aus dieser Zeit?

Meine Mutter hatte es oft sehr schwer, uns mit dem Nötigsten zu versorgen.

Ich erinnere mich noch, dass wir im Winter bei tiefem Schnee zu einem Bauern nach Rohrbach hinüberüberstapften, um dort etwas Milch zu bekommen. In der Bauernstube stand ein seltsames Gefäß, das ich später als Butterfass kennenlernen sollte.

Ansonsten bekamen wir von den Bauern in Sulzfeld Milch und Eier, weitere Lebensmittel konnten wir mit unseren "Märklen" in den verschiedenen Läden kaufen.

Auch waren wir oft in der Bachstraße bei Almatante (ihr Mann Christian kam 1946 leicht verletzt aus dem Krieg zurück) und ihren Kindern (1943 kam noch Volker in die Familie).

Machte sich der Krieg sonst noch bemerkbar?

Sicher.

Als die Bombenangriffe 1945 an Häufigkeit zunahmen, wurden unsere Betten und einige sonstige Möbel in den Keller verfrachtet. Viele Wochen lebten wir dort unten (mein Bett stand unter der Treppe im "Kohlenkeller").

Pünktlich um 20 Uhr tauchte der "Bombenkarle" auf, zog ein paar Schleifen über Sulzfeld und verschwand wieder.

Wenn tagsüber die Sirenen bei einem Fliegerangriff ertönten, suchten wir meistens Unterschlupf im gewölbten Keller bei der benachbarten Bauersfamilie Pfefferle.

Ich kann mich an drei Bombeneinschläge in unserem Dorf erinnern: einem Haus am südlichen Ende der Neuen Bahnhofstraße wurde der Ostteil weggerissen, ein Haus in der Ochsenburgerstraße wurde völlig zerstört, und am Bedrohlichsten für uns wurde es, als eine Bombe den Westteil des Bahnhofs zertrümmerte (er ist nur ca. 100 m Luftlinie von unserem Haus entfernt); der Einschlag, der Explosionsknall und die darauffolgende Erschütterung trafen uns alle bis ins Mark.

Der Eisenbahntunnel zwischen Sulzfeld und Eppingen war ein beliebtes Ziel für die Jagdbomber, denn in ihm hatten sich oft Munitionszüge der Wehrmacht versteckt; bei Nacht konnten sie aber immer unbeschädigt entkommen.

Bei länger andauernden Bombendrohungen verließen wir unser Haus und zogen mit unserem vollgepackten Leiterwagen durch das Dorf und am Kohlbach entlang Richtung Gärtnerei Pfettscher.

Dort nächtigten wir dann auf den baumbestandenen Wiesen nahe der "Kelter", auf dem Gewann, auf dem unser jetziges Haus steht.

Ich kann mich gut an die Lichtfinger der Flakabwehr erinnern.

1945 nahm auch die Zahl der Menschen ("Fuggerer") aus den Städten immer mehr zu. In ihrer Not versuchten sie, oft sehr Wertvolles gegen Kartoffeln, Mehl und Butter einzutauschen.

Nicht wenige Bauern dürften damals ihr Vermögen beträchtlich vermehrt haben.

Im Frühjahr 1945 konnten wir aus unserem Speicherfenster beobachten, wie Soldaten beiderseits des "Rohrbacher Buckel" in den Straßengräben auf das Dorf zurobbten.

Sie stellten sich später als Marokkaner heraus, die aber das Dorf bald wieder verließen.

Ihnen folgten die Amerikaner, und wir lernten Wörter wie "Chewing Gum" und "Ok" kennen, auch stieg uns zum ersten Mal in unserem Leben der Duft einer Orange in die Nase.

Die Soldaten waren freundlich zu uns Kindern und hoben uns manchmal in ihre mächtigen Fahrzeuge.

Sie hatten die schönsten Häuser in unserem Dorf einfach beschlagnahmt.

Ihre Anordnung, alle Wertgegenstände auf dem Rathaus abzugeben, wurde nur von den Ängstlichsten befolgt. So landete auch unser wunderschönes Telefunken-Radio dort (zwanzig Jahre später entdeckte ich es bei einem reichen Sulzfelder).             

Viele vergruben auch ihren Schmuck und Uhren oder lagerten sie in geleerte Fässer ein.

Auf dem Schulhof lagen Berge von Gewehren, Pistolen und Munition jeder Art (einige Schachteln davon habe ich erst in den 1980-er-Jahren entsorgt).

Als dann die ersten Care-Pakete eintrafen, war das Schlimmste überstanden, die Zukunft wagte sich aus den Startlöchern.

Im Vergleich zu dem großen, unermesslichen Elend, das der Krieg im in Europa verursacht hatte, konnten wir uns glücklich schätzen, dass wir vor diesem verbrecherischen Wahnsinn in unserem Dorf doch weitgehend verschont geblieben waren, aber umso fassungsloser und bestürzter muss man erkennen, dass aktuell manches - vielleicht sogar vieles - darauf hindeutet, dass vergleichbare Strukturen und Denkweisen vergangener Jahrzehnte immer mehr an die Oberfläche kommen und sich erneut in den Köpfen Unbelehrbarer - oder präzise Wissender und Berechnender - breit machen und etablieren.

 "Homo sapiens"? - Man kann daran zweifeln!

                                                                              -Alltag -

 

Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, wohnten wir - meine Mutter, ich - und ab September 1942 auch meine Schwester Elke - ab Ende 1940 in einer Zweizimmerwohnung im Obergeschoss des Hauses Neue Bahnhofstraße 7.

Es war ein Doppelhaus, dessen linke Hälfte Karl Himmel gehörte; er hatte es zusammen mit seinem Bruder Heinrich im Jahr 1926 gebaut. Dieser bewohnte mit seiner Familie die rechte Hälfte.

Karl Himmel musste auf Grund seines Alters (*4.7.1899) nicht mehr in den Krieg. Er hatte den 1. Weltkrieg mitgemacht, war 1917 in französische Gefangenschaft geraten und 1919 nach Hause zurückgekehrt.

Als 1946 seine Frau Sophie starb, stand er plötzlich alleine da mit seinen beiden Töchtern Helga und Gudrun.

1948 geschah dann das, was zu erwarten war: Meine Mutter und er taten sich zusammen und heirateten im Januar.

Ein Zusammenleben ohne Trauschein im selben Haus ließen die  damaligen Moralvorstellungen nicht zu; der Trauschein "besänftigte" einige Nachbarinnen.

Geprägt war diese Ehe von gegenseitigem Respekt und viel Arbeit.

 Obwohl ich im Rückblick auf das Verhalten meiner Mutter mir gegenüber vieles missbillige, habe ich vor ihrer Lebensleistung höchsten Respekt.

Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, nach der Schule zehn Jahre jeden Tag von Ochsenburg nach Leonbronn gelaufen und mit dem Zug zur Arbeit nach Brackenheim gefahren, 1939  geheiratet und vier Jahren nach dem Tod des Ehemannes mit zwei Kindern  die Härten eines Krieges bestanden und dann ab 1961 nahezu 30 Jahre lang einen Haushalt mit acht Personen gemeistert - genauer: jeden Tag Essen zubereiten, Wäsche besorgen, Haus in Ordnung halten und nebenbei noch drei Kinder ihrer Tochter großziehen: eine aufopferungsvolle, alle eigene Interessen verleugnende Arbeit, die man in ihrer Dimension heute nicht mehr begreifen kann. 1996 musste sie dieser Schinderei Tribut zollen; ihr Herz wollte/konnte nicht mehr.

Bei der Erziehung von uns Kindern machten beide keinen Unterschied.

Mir gegenüber war Karl sehr streng, schlug mich aber nie, was damals die Ausnahme war. Seine bestimmte Art und Weise verlangte einfach Gehorsam.

Ich musste ihm bei den mannigfaltigsten Arbeiten zur Hand gehen und habe dabei eine Menge im handwerklichen Bereich von seinem Geschick profitiert. Lob sprach er selten aus, seine Ungeduld war neben seiner peniblen Arbeitsweise ein weiteres Markenzeichen.

Er hatte viele Jahre bei den NSU-Werken Fahrräder zusammengebaut.

Um nach Neckarsulm zu gelangen, musste er morgens um vier Uhr losmarschieren, wenn er in Eppingen den 6-Uhrzug erreichen wollte.

Derselbe Weg musste natürlich abends wieder bewältigt werden, und das Ganze sommers wie winters.

Vor allem die - damals noch schneereichen Winter - müssen brutal gewesen sein.

 Nach dem Krieg wurde er bei der Eisenbahn angestellt.

Zuerst als Sipo ("Sicherheitsposten") beim durch Bomben beschädigten Tunnel zwischen Sulzfeld und Eppingen, später als Schrankenwärter bei den verschiedenen Bahnübergängen rund um Sulzfeld.

Ich musste ihm um die Mittagszeit sein Essen bringen.

Wenn er beim "Graser" Dienst tat, musste ich durch den Tunnel stapfen, was mich anfangs große Überwindung kostete.

Etwa zehn Jahre nach dem Krieg wurden die meisten Bahnübergänge geschlossen oder automatisiert, und er wurde einer Rotte zugeteilt.

Es war eine schwere Arbeit, jeden Tag acht Stunden bei jedem Wetter mit einem Pickel die Schottersteine zwischen den Gleisen zu lockern.

Ich denke, es war um das Jahr 1956, als er von seinem Rottenführer das Angebot bekam, sich selber für diesen Posten ausbilden zu lassen. Dieser hatte seine akkurate Arbeit gesehen.

Nach langem Zögern nahm er diese Offerte an, fuhr ein halbes Jahr jeden Tag nach Pforzheim und drückte als knapp Sechzigjähriger nochmals die Schulbank.

Es war auch die Zeit, wo er zum ersten Mal merkte, dass mein Wechsel aufs Gymnasium doch nicht so ganz unsinnig gewesen war. Zugegeben hat er seinen evtl. Sinneswandel nicht, aber froh war er doch, dass ich ihm bei seinen Matheaufgaben helfen konnte.

Bis zum Ende seines Arbeitslebens bei der Eisenbahn begleitete er den Posten des Rottenführers und hatte es damit etwas leichter. Es kam aber immer wieder vor, dass er jemanden den Pickel aus der Hand nahm und ihm demonstrierte, wie seiner Meinung nach richtige Arbeit auszusehen hat.

Alle seine Tätigkeiten wurden schlecht bezahlt, so dass Schmalhans immer Küchenmeister bei uns war.

Eine kleine Erleichterung brachte die Rente*, die meine Mutter nach dem Tod meines Vaters bezog.

Der Lohn wurde damals wöchentlich bar ausgezahlt.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie mich meine Mutter immer freitags ab 15 Uhr zum "Bahnhofbuckel" schickte, um nachzuschauen, ob "er" noch nicht zu sehen war. Gemeint war der Mann mit der Ledertasche, aus der er in unserer Küche den Lohn bar auf den Tisch zählte.

Meiner Erinnerung nach waren es etwa 100 Mark, nicht üppig für 6 Menschen. 

 

*Wenn sie ohne Trauschein zusammengelebt hätten, hätte die dann fällige Rente meines Vaters Gottlob ("Zwölfender") nahezu das Fünffache ausgemacht, was Karl verdiente; er hätte praktisch zuhause bleiben können. Nach der Heirat schrumpfte sie auf ca. 60 Mark im Monat zusammen.

Ohne die kleine Landwirtschaft wäre es nicht zu schaffen gewesen.

Sie trug auch dazu bei, dass wir jedes Jahr ein oder zwei Schweine großziehen konnten.

Kartoffel und Geschrotetes (Schalen der Getreidekörner) waren ihre Hauptnahrung.

Ihre "Wartung" oblag mir.

Das bedeutete, jeden zweiten Tag die Schweine aus dem Stall zu treiben, den Mist zusammenzufegen und rauszuschaffen, frisches Stroh vom Schopfen heruntergabeln, einstreuen und die Biester wieder in den Stall zu scheuchen, was oft mit viel Mühe und Geschrei verbunden war.

Nahezu jeden Tag musste ich einen Korb Kartoffeln aus dem Keller holen, die Triebe abzupfen und sie im Kessel abkochen.

Der Brei aus Kartoffeln und Kleie wurde dann mit Wasser - selten einmal mit Milch - gemischt und in den Trog geworfen. Das Schmatzen und Grunzen der beiden höre ich heute noch.

Neben Schweinen hielten wir über Jahre auch Hühner und Ziegen, phasenweise auch Gänse, Enten und Hasen.

Die Ziegen brauchten im Sommer jeden Tag frisches Futter, dessen Besorgung mich abends meistens aus der Tätigkeit rausriss, die mir am liebsten war: Fußball spielen.

Zu jeder Tageszeit fanden wir uns zu dieser Bolzerei auf der Neuen Bahnhofstraße oder auf der Luisenstraße ein.

Anfangs (1948) mussten wir unseren "Ball" selbst basteln; meistens war es eine mit Stroh gefüllte und mit Stofftüchern oder Weidenruten umwickelte Kugel. Nach einer Stunde war sie meistens zerfetzt.

Später konnten wir Gummibälle verwenden; der Besitzer des Balles war der "Chef". Er bestimmte, wer mitspielen durfte, ebenso Beginn und Ende des Spiels.

Wenn der Ball über ein Hoftor flog, konnte es sein, dass der Hausbesitzer den Ball zum Ortspolizisten, Herrn Weber, brachte, und einer von uns dann diesen Canossagang in die Friedrichstraße auf sich nehmen musste, um den Ball wieder abzuholen; ohne eine lange und intensive Strafpredigt kam er nicht davon, ebenso ohne das feste Versprechen, in Zukunft auf dem Sportplatz rumzubolzen und nicht auf den Straßen (dieses immer wieder nicht zu haltende Versprechen war auch der Grund, warum jedes Mal ein anderer von uns in die Friedrichstraße geschickt wurde).

Das Schlimmste, das uns passieren konnte, war, dass der Ball in den Hof der Hausnummer 11 flog, denn hier hauste der "Schneiderbock", ein meistens betrunkener Einzelgänger.

Er hatte immer das Beil und den Hackklotz parat, und äußerst selten gelang es einem von uns, über das verschlossene Hoftor zu klettern und den Ball zu retten.

[Nebenbei: Es gab keinen Grund, den weiten Weg zum Sportplatz anzutreten. Auf der "Bäreninsel" gab es bis weit in die 50-er nur zwei Autos, die selten benutzt wurden und meistens in ihren Garagen standen. Heutzutage gibt es kaum ein Durchkommen, spielende Kinder auf den Straßen gibt es nicht mehr.]

Nachdem mein Vater nach Rückkehr von der Arbeit zu Abend gegessen hatte, musste ich den Leiterwagen mit einem Grastuch, der Sense und dem großen Rechen beladen und ihn dann durch die Neue Bahnhofstraße und die Friedrichstraße zu unserem kleinen Grundstück hinter der Ziegel Pottiez hinausziehen; mein Vater hatte die Abkürzung über den schmalen Fußweg, an der Firma Burgahn vorbei, genommen.

Wir trafen uns auf dem ca. 3 ar großen Wiesenstück, und er schnitt mit der Sense die notwendige Menge Gras, um das Grastuch zu füllen.

Wir verstauten alles auf dem Leiterwagen und waren nach etwa einer Stunde wieder zu Hause.     

Wenn ich Glück hatte, war die Bolzerei noch im Gange, und ich konnte bis Einbruch der Dunkelheit noch mitmischen.

Einer der wichtigsten Tage für uns alle im Laufe des Jahres war der Tag, an dem eines unserer Schweine geschlachtet wurde; meistens fand dieses Ereignis im Frühjahr statt, in der Regel   an einem Samstag.

Schon Tage vorher begannen die Vorbereitungen:

Mit dem Metzger - meistens war es Hans Meergraf - wurde der Termin vereinbart, und bei Hans Klebsattel vom "Badischen Hof" wurde die Brühmulde abgeholt und mit dem Leiterwagen zum Haus transportiert; die Schaber und Kratzer gab er uns gleich mit.

In die Küche wurde ein zweiter Tisch gestellt, und alle unnötigen Möbelstücke wurden rausgeschafft. Die Küche sollte als Zentrum dieser blutigen und fettstrotzenden Zeremonie fungieren.

Als der Metzger am Schlachttag bereits sehr früh mit seinen Werkzeugen eingetroffen war, wurde das Schwein unter großem Geschrei aus dem Stall geschafft und im Hof auf die Erde gelegt; durch beruhigendes Zureden versuchte man, das Tier zu besänftigen.

Dann wurde es getötet.

Bei den ersten Hausschlachtungen nach dem Krieg - sie waren während desselben strengstens verboten gewesen - wurde das Schwein mit einer Kugel aus einer vom Krieg übrig gebliebenen P38 in den Kopf getötet.

Bevor der Metzger ab der fünfziger Jahre seinen Bolzenschussapparat mitbrachte, starben die Schweine auf eine äußerst grausame Art.

Der Metzger oder mein Vater stellten sich breitbeinig über das am Boden liegende Schwein und versuchten, es in einem ruhigen Moment durch einen Schlag auf die Stirn mit der stumpfen Seite einer Axt zu betäuben.

Wenn der Schlag die Stirn des Schweines mittig traf, war es sofort bewusstlos und konnte gestochen werden.

Oft waren mehrere Schläge nötig, um das Tier zu betäuben; heute ein unvorstellbar barbarischer Akt.

Ob bewusstlos oder tot:

Der Metzger stach dann mit einem langen Messer in den Hals des Schweines und zertrennte die Halsschlagader.

Das herausströmende Blut wurde in einem Eimer aufgefangen und sofort mit einem Löffel minutenlang kräftig umgerührt. So wurde die Gerinnung verhindert und das Blut für die spätere Verwendung haltbar gemacht.

Wenn das Schwein ausgeblutet war, wurde es in die mit kochend heißem Wasser gefüllte Brühmulde gehievt und in mühevoller Arbeit mit scharfkantigen Schabern von Haaren und Borsten befreit.

Anschließend wurde ein Strick durch die aufgeschlitzten Achillessehnen der Hinterbeine gezogen und das Tier an einem in der Stallwand eingelassenen massiven Metallhaken mit der Bauchseite nach vorne hochgezogen.

Der Bauch wurde anschließend aufgeschlitzt, und die Organe sorgfältig herausgelöst; außer der Galle wurde nahezu alles verwendet.

Leber, Nieren, Herz, der Kopf und weitere Teile wurden in die Küche geschafft und dort von meiner Mutter und anderen Frauen zerkleinert und für die weitere Verwendung vorbereitet.

Eine der umfangreichsten Arbeiten war das Speckschneiden:

Die Speckschwarten mussten für die Wurstherstellung in kleine Würfel ("Grieben") geschnitten werden, bevor sie in kochendes Wasser geschüttet wurden.

 Manchmal hatte ich Pech und musste eine der unbeliebtesten Arbeiten übernehmen: Das Reinigen des meterlangen Dick-und Dünndarmes. Er wurde für die Wurstfüllung unbedingt gebraucht, ebenso wie der Magen ("Schwartenmagen").

Nachdem ich zunächst den Kot aus dem Darm herausdrückte, wurde er mehrmals mit Wasser so lange gespült, bis das herausfließende Wasser ganz klar war.

Nach etwa fünf bis sechs Stunden gab es als Belohnung der anstrengenden Arbeit die von allen erwartete und beliebte Kesselbrühe ("Metzelsuppe"), manchmal auch noch "Kesselfleisch".

Anschließend wurden dann die verschiedenen Wurstsorten (Leberwurst, Blutwurst/Griebenwurst, Schwartenmagen) zuberei-  tet, in die Därme bzw. den Magen abgefüllt und im „Wäschkessel“ stundenlang gekocht (zur Verfeinerung und Geschmacksabrundung wurden noch einige Kilogramm zuvor gekauftes Rindfleisch beigemischt).

Besonders sorgfältig wurden Schweinerippchen und der Schinken zubereitet.

Letzterer wurde Tage später - nach der Lufttrocknung - im Kamin geräuchert; das dafür notwendige Sägemehl hatte ich beim "Schreinerweiß" besorgt.

Am späteren Nachmittag war es dann Zeit, die tags zuvor bei der "Eduarde" geholten und inzwischen mit Wurst und Fleisch gefüllten Dosen in einen Wäschekorb zu verstauen und mit dem Leiterwagen in die Friedrichstraße zu fahren, wo sie dann von ihr maschinell mit einem Deckel verschlossen wurden.

 Mit kleinen Metallstempeln wurden auf die Deckel entsprechend des Inhalts Großbuchstaben eingestanzt (G, L, F, S).

Auch diese Dosen mussten dann einige Stunden bei kochendem Wasser im „Wäschkessel“ aushalten.

Während der Metzger schon lange nach Hause gegangen war, und mein Vater und ich vor dem „Wäschkessel“ saßen und das in ihm steckende  Thermometer kontrollierten, blieb für die Frauen noch eine harte Arbeit übrig:

Böden, Möbel, Werkzeuge und Geschirr mit kochendem Wasser von den sich überall breit gemachten Fettrückständen zu befreien.

In einem einzigen Arbeitsgang war das nicht zu bewerkstelligen; erst nach Tagen waren die Spuren dieses "Schlachttages" einigermaßen verschwunden, aber noch Wochen und Monate dauerte es, bis die Leckereien dieses Tages aufgebraucht waren und man sich aufmachte, die nächste Hausschlachtung zu planen.

Ich hauste damals im kleinsten Zimmer des Hauses, und die nächsten paar Tage fühlte ich mich wie im Schlaraffenland, denn dieses acht Quadratmeterstübchen war schon traditionsgemäß als Aufbewahrungsort für die "Ernte" des Schlachttages auserkoren.

Sie hingen an fünf Weinbergpfählen, die man links und rechts auf zwei Stühle gelegt hatte, und es kostete mich abends schon einige Mühe, mein Bett aufzusuchen, ohne ein allzu großes Durcheinander an den baumelnden Würsten und Schinken anzurichten.

An die Gerüche musste ich mich jedes Jahr wieder neu gewöhnen.

- Bäreninsel -

 

Eine genaue Begriffsbestimmung für diesen nördlichen Sulzfelder Ortsteil habe ich nirgends gefunden. Ich definiere ihn einfach als dieses Gebiet:

Das Gelände innerhalb der Neuen Bahnhofstraße, der Bahnhof-  straße, der Hauptstraße und der Friedrichstraße.

Auch der Ursprung dieses Begriffes war nicht eindeutig zu eruieren. Am Plausibelsten erscheint mir noch die Erklärung, dass die mitgeführten Bären des „Fahrenden Volkes“, das hier manchmal - in der Nähe des Bahnhofs - sein Lager aufschlug, diesem Flecken seinen Namen gaben.

Andere vermuten, dass der Begriff "Beeren“ Namenspate war.

Wie dem auch sei, diese wenige Hektar unseres Planeten waren viele Jahre meine „Welt“; hier wuchs ich auf, kannte jeden Winkel, und heute noch tauchen bei jedem Besuch unzählige Bilder und Erlebnisse auf.

Ich habe schon viele Definitionen des Wortes „Heimat“ gelesen (u.a. bei Siegfried Lenz), und immer wieder bin ich geneigt, diese „Bäreninsel“ als den Urpol meiner Heimat zu sehen.

In den bis jetzt 50 Jahren, die ich im „Ballreich“ lebe, hat sich dieses Gefühl noch nicht eingestellt.

So um die Zeit ab 1950 erweiterten wir Schritt für Schritt diesen Raum und waren immer öfter auch am Kohlbach, im Hägenich, auf der Ravensburg, im Forlen- und Rietwald zu finden.

Wer waren „Wir“?

In der Regel eine Gruppe von sechs bis zehn nahezu gleichaltriger Buben, denen sich manchmal auch zwei oder drei Mädchen zugesellten.

Die meiste Zeit trafen wir uns auf der Kreuzung der Luisen-/Neuen Bahnhofstraße und verweilten uns bei den mannigfaltigsten Spielen (Verstecken, Völkerball, "Steckele gestohlen“, Handball und vor allem Fußball/"Rasserle").

In den Wäldern dominierte das "Indianer spielen", vor allem, als ich um 1952 bereits alle mir zur Verfügung stehenden "Karl-May-Bücher" gelesen hatte (mein erstes Buch - Nibelungensage" - hatte mir mein taubstummer Nachbar Helmut geliehen).

 Auf der unteren Kohlbach ließen wir unsere geschnitzten Schiffchen treiben, bis sie bei der "Egon-Mühle" den Wasserfall hinunterstürzten.

Beeinträchtig wurde unser Rumtoben auf den Straßen durch keinerlei motorisierte Vehikel, allenfalls mussten wir dann kurz unterbrechen, wenn Bauer Pfefferle mit seinem Pferdegespann zu einem Acker hinauszog (heute sind beide Straßen mit Autos völlig zugeparkt).

Eine weitere Attraktion bildete ab 1954 das "Badhäusle" für uns.

Der vor dem Krieg gehegte Plan des Baus eines Freischwimmbades („Hitlerbad“) in der Nähe der Gärtnerei "Pfettscher" hatte sich anscheinend als nicht realisierbar erwiesen, aber um der Dorfjungend doch Gelegenheit zu bieten, sich an heißen Sommertagen ab und zu etwas Kühlung verschaffen zu                                          

 können, hatten Gemeindearbeiter gegenüber der heutigen E.G.O. den Kohlbach verbreitert und das entstandene Becken mit einer Betonmauer eingefasst; für den Durchfluss des Baches hatte man eine etwa 1x2m große Lücke frei gelassen. Die darin hochkant stapelbaren Bretter stauten den Kohlbach zu einem etwa 10x4x1,40 m Becken, das uns in den Sommermonaten als "Lehrschwimmbad" diente; viele Kinder lernten in ihm das Schwimmen.

Ein einziger Nachteil schränkte unsere Badefreuden allerdings doch beträchtlich ein: Das Wasser des aus dem Ochsenburger Wald herunterfließenden Kohlbachs war zu kalt zum "Baden"; man sprang hinein, "strampelte" auf die andere Seite und stieg sofort wieder heraus.

 Hatten wir das „Paradies“? Konnten wir nur spielen?

Mitnichten.

Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, wurden manche von uns ab dem Alter von neun bis zehn Jahren zu vielfältigen Arbeiten herangezogen, ob im häuslichen Bereich oder bei der Feldarbeit.

Zuhause musste ich unsere Schweine füttern und alle zwei Tage ihren Stall ausmisten, die Hühner und in manchen Jahren die Ziegen versorgen, Holz spalten, samstags die „Rinne“ fegen, die Brotlaibe zum Bäcker fahren und abends wieder abholen (im Sommer mit dem Handwagen, im Winter mit dem Schlitten), mit dem Wassereimer ein- bis zweimal am Tag zum Bahnhof oder zum „Bienenheinrich“ marschieren und aus dem Brunnen Trinkwasser pumpen (das Leitungswasser war zu kalkhaltig), und einige Male in der Woche schickte man mich zum Bäcker Hagenbucher, zum „Klebsattel“ (Metzger) oder zum „Konsum“ im Oberdorf zum Einkaufen (von der Inhaberin des im Nachbarhaus befindlichen „Kolonialwarenladens“ - Frau Kunzmann -höre ich heute noch ihren Standardsatz: „Hab i nett, s`Auto isch noch nett komma“; sie konnte die angelieferten Waren meistens nicht bezahlen und erhielt so immer weniger).

Ab 1952 kam es immer häufiger vor, dass ich nach der Heimkehr aus dem Progymnasium auf dem Küchentisch einen Zettel vorfand, der mich darüber informierte, auf welchem Acker des Onkel Augustschen Besitztums ich meinen Nachmittag verbringen sollte.

Wie an anderer Stelle geschildert, liehen wir für die Arbeit auf unseren Feldern      und im Weinberg einige Male im Jahr das Kuhgespann von August Krüger in der Bachstraße aus; er war der Schwager meines Vaters, und er erwartete natürlich, dass diese „Dienstleistung“ von uns in irgendeiner Form honoriert wurde. Da uns eine finanzielle Entgeltung nicht möglich war, war die Alternative nur die Einbringung dessen, was wir hatten: unsere Arbeitskraft. Meine Mutter trug dabei die Hauptlast.

Immer wieder trieb es mich auch hinunter zum Bahnhof, wo zwei bis drei Mal am Tag die Dampfzüge hielten.

Interessant wurde es abends, wenn der Güterzug einlief; da konnte man die Dampflok ganz aus der Nähe betrachten und hören.

Bei einer Rangierpause durfte ich manchmal in das Führerhaus zum Lokführer hinaufsteigen; es war ein rußiger und sicher auch harter Arbeitsplatz.

Meine heute noch vorhandene Affinität zur „Eisenbahn“ ist sicher durch den Arbeitsplatz meines Vaters bei dieser Institution bedingt.

Die anfangs vier vom Sulzfelder Bahnhof zu betreuenden Bahnübergänge wurden damals natürlich manuell bedient.                      

Dicht  bei ihnen hatte man ein kleines Häuschen errichtet, in welchem sich die Männer während ihrer Dienstschicht aufhalten konnten; sie waren telefonisch mit den Bahnhöfen Zaisenhausen, Sulzfeld und Eppingen verbunden und wurden von ihnen über die Abfahrt eines Zuges über dieses Medium unterrichtet. In der Regel kurbelten die Männer erst dann die Schranken herunter, wenn sie den herannahenden Zug gesichtet hatten  (sporadisch kam es vor, dass die Männer bei ihrer eintönigen und langweiligen „Tätigkeit“ einschliefen, und der Zug dann mit heftigem Gepfeife über den unbeschrankten Bahnübergang brauste; wenn der Lokführer den Vorgang meldete, bekam der „Schläfer“ eine Verwarnung und eine Geldstrafe).

Entsprechend der Art seiner Schicht, musste ich meinem Vater in einer mit einem Tuch umwickelten Milchkanne sein Essen zu seinem wechselnden Arbeitsplatz bringen; meistens lief ich auf den Schienenschwellen zu den Bahnwärterhäuschen oder zum Tunnel hinaus.

Ich besuche heute immer noch regelmäßig meine Schwester auf der Bäreninsel; meistens gehe ich zu Fuß die 2 km hinauf, und immer wieder tauchen beim Anblick der Häuser und Örtlichkeiten natürlich Bilder der Menschen auf, die damals gelebt und zu denen man in irgendeiner Art und Weise in Beziehung gestanden war.

Schräg gegenüber hatte Schuhmacher Fischer seine Werkstatt.

Es war ein kleiner Mann, der den ganzen Tag auf einem niedrigen Drehstuhl saß und mit einfachsten Mitteln und Werkzeugen versuchte, die Gehwerkzeuge seiner Mitmenschen einigermaßen funktionstüchtig zu halten; nach seinem Tod übernahm sein langjähriger Mitbewohner Karl Hable seine Arbeit.

Im letzten Haus auf der rechten Seite der Neuen Bahnhofstraße in Richtung Bahnhof hatte der „Dampfhansl“ einen kleinen Installationsbetrieb, bei dem ihm später sein Sohn Hans half.

Im Winter war ich oft Kunde bei ihm, denn er musste die immer wieder aufbrechenden Löcher an unseren Zinkbettflaschen zulöten.

Der größte Betrieb war die Schreinerei Friedrich, die später zu einem Möbelhaus mutierte.

Unserem Haus gegenüber stand - und steht heute noch - eine imposante Sandsteinvilla, in der Max Fischer mit der „Lumpenzwick“ seine Familie ernährte, indem er sich von irgendwoher Berge von Kleidern und sonstigen Textilien besorgte und diese dann von etwa 15 Frauen sortieren und sortengerecht bündeln ließ; oftmals während des Tages hörte man sie singen, und durch bei schönem Wetter geöffnete Fenster kamen auch die Nachbarn in den Genuss ihrer mehrstimmig vorgetragenen Lieder.

Leider gab es da aber ein paar Lausbuben, die durch ihre in die offenen Fenster geworfenen „Wasserbomben“ die Frauen veranlassten, diese wieder zu schließen, nachdem sie             

vorher ihre Meinung über diese Bande lautstark bekundet hatten.

Den "Henschel" von Max Fischer fuhr Hermann Fischer.                              

Er ging mit mir manchmal zur "Kinomaiere", denn diese kleine, energische Frau führte anfangs der 50-er im Saal des "Badischen Hofes“ über das Wochenende den staunenden Sulzfeldern ihre gut besuchten Filmdarbietungen vor (beim "Förster vom Silberwald" reichte die Schlange bis zur Straße).

Als mir dann 1954 Peter Pottiez die Eintrittsgebühr von 50 Pfennigen spendierte, sah ich hier auch meinen ersten Film ("Winchester 73“); vor Aufregung passierte sogar ein kleines Malheur.

Hermann Fischer nahm mich auch manchmal auf seinen Fahrten mit; zwei davon sind mir noch in guter Erinnerung - eine nach Dürkheim in der Pfalz, wo er mir das "Große Fass" zeigte, und eine zweite nach Gernsbach im Nordschwarzwald.

Am östlichen Ende der Luisenstraße kannte ich auch einen Ort, an dem ich mich gerne aufhielt, denn hier betrieb Josef Weiß zusammen mit seinen Söhnen Rudolf und Heinz eine kleine Schreinerei (aus ihr ging später die heutige Holzhandlung „Himmel&Weiß“ hervor); den dem frisch gesägten Holz entströmende Duft mochte ich.

Gegenüber dem „Schreiner-Weiß“ hatte Wilhelm Guggolz seine Küferei und produzierte Bütten sowie große und kleine Fässer für die immer größer werdende Anzahl der „Wengerter“ in Sulzfeld. Seine Frau hatte eine andere Vorliebe: Sie huldigte der Muse der Dichtkunst und gilt heute als die Heimatdichterin unseres Dorfes.

Bei dieser Skizzierung der „Bäreninsel“ möchte ich es belassen, denn die 28 Jahre auf diesem Flecken böten noch Stoff für viele Seiten.--

Ein Teil dieses Bildes zwingt mich geradezu, noch ein nicht unwichtiges Kapitel meiner „Bäreninsel-Vita“ anzufügen.

Es ist der kleine Hund - unser Karo; 16 Jahre war er unser ständiger Begleiter.

Interessant ist die Geschichte, wie er zu uns kam.

Es war im Frühjahr 1953, als ich aus irgendeinem Anlass auf dem „Luisenhof“ zwischen Zaisenhausen und Gochsheim war.

Als wir ankamen - mein Nachbar Werner war noch dabei - stieg gerade ein Mann in seinen Laster und fuhr aus der Hofeinfahrt hinaus auf die Straße.

Plötzlich bemerkten wir, dass er vergessen hatte, die hintere Ladeklappe zu schließen und sahen auch gleichzeitig, dass sich da etwas bewegte.

Als er auf die Straße Richtung Gochsheim einbog, fiel etwas herunter. Wir liefen hin und sahen zwei kleine Hunde, die auf dem Boden verstört herumkrabbelten.

Wir rannten noch auf die Straße, riefen und winkten dem Laster hinterher, aber der Fahrer reagierte nicht mehr.

Nach Rücksprache mit den Luisenhofbauern - er schätzte das Alter der Welpen auf zwei bis drei Wochen - nahmen Werner und ich die beiden mit nach Hause.

Meine Mutter stellte Karo - so hatte ich ihn sofort getauft - ein Schälchen Milch hin, während ich eine Holzkiste mit etwas Stroh und Heu auslegte.

Am Abend setzte ich Karo hinein und stellte sie in unseren Schopfen. Ich konnte es am nächsten Morgen kaum erwarten, bis ich nach Karo schauen konnte.

Er war putzmunter und schlapperte sofort an dem Milchschälchen herum.

Später erfuhr ich, dass Werners Hündchen am Abend noch gestorben war; möglicherweise war es durch den Sturz von dem LKW doch verletzt worden.

Karo wuchs und gedieh und war aus unserer Familie in kurzer Zeit nicht mehr wegzudenken.

Er kannte bald auch unsere Gepflogenheiten und die Tagesabläufe und reagierte bereits im Voraus auf anstehende Vorhaben; wenn wir z.B. unsere Feldschuhe aus dem Schrank holten, rannte er vor Vorfreude ganz wild durch die Gegend, denn er wusste jetzt, dass es wieder ins Gelände ging, wo ihn die mannigfaltigsten Erlebnisse erwarteten.

Er tauchte auch überraschend überall im Dorf auf und hatte viele Bekanntschaften unter seinen Artgenossen.

In den kalten Wintern verließ er ganz selten seinen Lieblingsplatz - den Kohlenkasten im Herd.

Wir vermissten ihn sehr, nachdem wir ihn 1969 hatten einschläfern lassen.

- Augustonkel -

In manchen Beiträgen dieser „Lebensfragmente“ taucht immer mal wieder der Name "Augustonkel“ auf.

Wer war er?

Er war der Bruder der verstorbenen Ehefrau Sophie meines Stiefvaters Karl Himmel, wohnte in der Bachstraße und besaß eine kleinere Landwirtschaft; ich denke, sie umfasste etwa drei Hektar.

Im Stall standen meist fünf Kühe, die mit ihrer Milch ihn und seine Tochter Wilma versorgten und daneben als Zugtiere dienten.

Da wir öfter gezwungen waren, dieses Gespann für unsere Arbeiten auf den Feldern und im Weinberg auszuleihen, erwartete er selbstverständlich, dass wir als Gegenleistung ihn bei den im Jahresverlauf anfallenden landwirtschaftlichen Arbeiten unterstützten; das „Wir“ bezieht sich hier vor allem auf meine Mutter und mich, im Besonderen auf Erstgenannte.

Bei welchen Arbeiten mussten/konnten wir helfen?                                                        

Wir unterstützten ihn vor allem bei der Kartoffel-, Rüben- und Weizenernte.

Die Kartoffeln wurden von ihm und manchmal auch von meinem Vater mit dem Karst aus dem Boden gebuddelt, und unsere Arbeit bestand dann darin, die Kartoffeln zu sortieren und in Säcke einzufüllen.

Die Rüben wurden einzeln mit einem Stecher aus dem Boden gestochen; wir mussten dann mit einem Messer das Kraut abschneiden, die Knollen von der Erde befreien und sie dann zu Haufen aufschichten.

Genau wie die Kartoffeln wurden sie dann am Abend - die Arbeiten dauerten oft viele Tage - auf das Fuhrwerk geladen, und die Kühe zogen dann die Fracht nach Hause, wo sie im Keller oder in der Scheune noch verstaut werden mussten.

Während die Arbeiten auf den Kartoffel-und Rübenäckern teilweise durch Regen und Kälte erschwert wurden, war es bei der Weizenernte oft brütend heiß.

Vor dem Jahr 1950 wurde der Weizen - ebenso wie Gerste und Roggen -  noch mühsam mit Reff und Sichel geerntet.

Später schaffte sich Augustonkel eine Mähmaschine an, die von seinen Kühen gezogen wurden und welche die Arbeit wesentlich erleichterte und beschleunigte.

Die gebündelten Weizengarben wurden auf den Leiterwagen gegabelt und anschließend - oft auf waghalsigen Fuhren durch die ausgewaschenen Furchen der Feldwege - zu seinem Haus in der Bachstraße transportiert, wo sie dann wiederum einzeln in der Scheune auf die Tenne verfrachtet wurden.

Im späten Herbst wurde dann eines Tages die mobile Dreschmaschine in die Scheune bugsiert - mit einem oft unwilligen Pferdegespann gar nicht so einfach - und die Ähren wurden in der Maschine von ihrer Frucht befreit.

Das Stroh wurde später in der Scheune verstaut; es wurde im Winter zusammen mit dem geernteten Heu und den kleingeschnittenen Rüben an die Tiere verfüttert.

Den Weizen holte ein Müller ab.

Der Eigenbedarf an Mehl wurde später ins Haus geliefert, der Rest wurde verkauft.

Ich denke, es wäre vergeblich, jemandem, der diese Zeit nicht miterlebt hat, auch nur in kleinen Dimensionen klar zu machen, unter welchen Umständen die geschilderten Arbeiten oftmals erledigt werden mussten.

Als extrem erlebten wir kalte Regentage bei der Rüben-und Kartoffelernte, bei denen sich die nassen und klammen Finger oft wie abgestorben anfühlten und gewollte Arbeitsabläufe verweigerten oder völlig blockierten.

Das krasse Gegenteil waren glühende Sommertage, an denen wir das schnittreife Getreide ernten mussten.

Enorm unangenehm - um nicht zu sagen: ekelhaft - empfand ich die Gerstenernte, denn die sich lösenden Grannen hafteten überall auf dem schweißnassen Körper; das Beißen und Stupfen  war kaum auszuhalten.

Manchmal stahl ich mich davon, fuhr mit meinem "Tripad“ zum „Badhäusle“ und sprang in das kühle Nass, aus dem ich wie neugeboren wieder herauskam.

Als mein Vater 1970 altersbedingt die Kleinlandwirtschaft aufgab, kam ich nur noch selten in die Bachstraße.

August starb mit 73 an den späten Folgen eines Unfalls.

- Kleinbauern -

Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, war die finanzielle Situation bei uns permanent angespannt. Mein Vater verdiente – trotz seiner harten Arbeit – einfach zu wenig.

Deshalb gab es keinen Ausweg: wir mussten nach Alternativen suchen.

Die 77 ar Boden, die mein Vater geerbt hatte, mussten uns helfen. Sie mussten unser Überleben sichern.

Sie taten es dann auch, aber unter welchen Bedingungen.

In dem kleinen Anbau – unserem „Schopfen“ - hielten wir Hühner, Ziegen, Schweine, manchmal auch Hasen und Gänse.

Sie trugen wesentlich zur Entspannung unserer finanziellen Situation bei und erlaubten die Erfüllung manchen–oft notwendigen- Sonderwunsches, verursachten aber jeden Tag eine Menge Arbeit.

Daneben bewirtschafteten wir drei größere Äcker (je ca. 20 ar).

Sie wurden abwechselnd mit Weizen und Kartoffeln bepflanzt.

Alle diese Arbeiten bedurften äußerst mühseliger Handarbeit.

Zur Vorbereitung der Kartoffelbepflanzung mussten im Frühjahr mit der Harke Hunderte von Löchern gegraben werden, in die dann je eine Kartoffel gelegt wurde.

Anschließend wurden die Löcher wieder eingeebnet.

Im Laufe des Jahres musste mehrmals das Unkraut gejätet, in manchen Jahren die Kartoffelkäfer abgesammelt werden.

Im Herbst wurde dann jeder Busch mit dem Karst herausgehauen, und die Kartoffeln von den Kräutern befreit.

Die Frauen und Kinder sammelten sie dann in Körbe, die dann in Säcke entleert wurden.

Am späten Nachmittag schickte mich mein Vater dann ins Dorf, um beim „Augustonkel“ die Kühe aus dem Stall zu holen, sie vor den Leiterwagen zu spannen und damit hinauf zum Rietacker zu fahren.

Er wuchtete dann die Säcke auf den Wagen, und wir fuhren dann zum „Maiers Franz“, wo der größte Teil der Ladung abgeliefert wurde. Drei bis fünf Mark bekamen wir für den Zentner.

Noch mühseliger war die Weizenernte.

Nachdem der Acker im Frühjahr umgepflügt und mit der Egge eingeebnet war (mit Hilfe von "Augustonkels" Kuhgespann), erfolgte dann die Einsaat, anfangs per Hand, später dann mit der Maschine.

Als der Weizen dann im August schnittreif war, machte sich unsere Familie früh am vereinbarten Tag auf zum Acker.

Mein Vater schnitt mit dem „Reff“ die Mahden, meine Mutter bündelte mit der Sichel die Ähren und legte sie in die von den Mädchen ausgelegten Stricke.

Meine Aufgabe war es, die Ähren zu schnüren und die Garben in Haufen zusammen zu stellen.

Gegen Abend waren die 20 ar Weizen geschnitten.

Nebenbei: Heute verrichtet ein Mähdrescher diese Arbeit in 15 Minuten, und dann ist die Frucht schon „im Sack“.

Wenn kein Regen kam, wurden die Garben nach zwei bis drei Tagen eingesammelt und mit dem Leiterwagen und „Onkel Gustavs“ Kuhgespann zur Familie Fundis in der Neuen Bahnhofstraße gefahren; einen Teil ihrer Scheune hatten wir gemietet.

Dort musste der hochbeladene Leiterwagen rückwärts in den Hof und dann in die Scheune bugsiert werden.

Einzeln wurden die Garben dann mit einem Seilzug zur Tenne hinaufbefördert.

Ich befand mich auf dem Wagen und schob den Seilhaken zwischen die Garben und die Schnüre ("Strickla"). Es war eine mühselige und staubige Arbeit.

Und damit war es noch lange nicht getan.

Nach einer gewissen Trocknungsphase musste die gesamte Prozedur wiederholt werden - allerdings in anderer Richtung - und mit dem vollbeladenen Wagen ging es dann hinunter zur "Dreschhalle" in der Nähe des Sportplatzes.

Christian Bauer war dort der Boss, der alles regelte und lenkte.

Wenn man oft nach Stunden dann an der Reihe war, wurde der mit den Weizengarben hoch beladene Wagen neben die Dreschmaschine gefahren, und mein Vater gabelte dann die Bündel auf die Maschine, wo sie meine Mutter in Empfang nahm.

Sie löste die Stricke und schob die Garben in den Auffangschlund der Maschine; die Stricke warf sie herunter.

Meine Aufgabe war es, die am hinteren Teil der Dreschmaschine herausgepressten Strohballen wegzunehmen und sie seitlich zu stapeln; sie wurden später abgeholt.

Der seitlich aus der Dreschmaschine herausquellende Weizen wurde in bis zu zwei Zentner schweren Maltersäcken gesammelt und auf den Leiterwagen verfrachtet.

Nach der Bezahlung beim Dreschmeister fuhren wir mit ihnen nach Hause, wo meinen Vater die härteste Arbeit erwartete.

Er musste die oft 100 Kilo schweren Säcke auf den Speicher hinauftragen und sie dort auf dem Boden zum Trocknen ausleeren.

Er ließ sich wie immer nie etwas anmerken, aber ich bin mir heute sicher, dass er oft am Ende seiner Kräfte war.

Meine Aufgabe war es dann, die nächsten Tage den Weizen mit dem Rechen umzuwälzen – und dies täglich mehrere Male.

Wenn die Körner nach etwa zwei Wochen ihre Feuchtigkeit verloren hatten, wurden sie wieder in die Säcke gefüllt, hinuntergetragen und mit dem Leiterwagen zu einem Müller gefahren, meistens nach Mühlbach.

Tage später konnten wir dann das Mehl abholen.

Oft waren es keine 10 Zentner, die von der mühseligen und harten Arbeit für uns übrigblieben.

Aber das Leben ließ keine andere Wahl.

Unser „Wengert“

– Wie er entstand –

 

Es muss zwei oder drei Jahre nach Kriegsende gewesen sein, als wir im „Unteren Berg“ ein etwa 10 ar großes Grundstück besaßen.

Wie alle Grundstücke in diesem Gewann, lag auch unseres mit seiner oberen Hälfte am steilsten Teil, für die intensive Sonneneinstrahlung ideal, folglich zum Weinanbau genau richtig. 

Wie mein Vater zu diesem verwilderten Wiesenstück mit zwei Obstbäumen in der Mitte gekommen ist, weiß ich nicht mehr.

Auf jeden Fall war klar, dass er darauf einen Weinberg anlegen wollte.

Tagelang mühten wir uns, die Fläche von Dornensträuchern und anderem Wildwuchs zu befreien.

Im darauffolgenden Frühjahr war es dann soweit:

Das „Neigreit“ konnte angelegt werden.

Da diese harte Arbeit von einem einzelnen Menschen nicht bewerkstelligt werden konnte – ich wäre mit meinen neun oder zehn Jahren überhaupt keine Hilfe gewesen – schaute sich Karl nach Hilfe um und fand sie im „Athlet“. Dies war der treffende Spitzname unseres Nachbarn Kolb.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage sie im „Unteren Berg“ verbrachten; ich weiß nur noch, wie sie abends erschöpft und halb erfroren am Tisch in unserer Küche saßen, und wir feststellen mussten, dass der "Athlet“ nicht nur bei der Schwerstarbeit im "Unteren Berg" seinen Mann stand, sondern auch darin einsame Spitze war, wenn es galt, die Vorräte unserer Räucherkammer doch beträchtlich zu reduzieren. Er hatte es sich aber allemal redlich verdient.

Was genau taten die beiden?

Während heute beim Anlegen eines neuen Weinberges modernste GPS-Technik zum Einsatz kommt, ging es im „Unteren Berg“ primitiver zu; das Ergebnis konnte sich aber trotzdem sehen lassen.

Mit langen Schnüren, einem Meterstab und kleinen, etwa 30 cm langen Holzlatten, wurden zunächst die Stellen markiert, wo später die Löcher für die Rebstöcke gegraben werden mussten.

Dabei mussten sie genau darauf achten, dass die Stöcke exakt „in der Flucht“ stehen und die sechs Reihen auch präzise parallel den Hang hinauf verlaufen würden.

Diese Arbeit nahm einige Tage in Anspruch, war aber weniger anstrengend.

Was dann kam, war härteste Knochenarbeit.

Mit Spaten und Pickel mussten die vielen, etwa 50 bis 60 cm tiefen Löcher aus dem zähen und harten, teilweise noch gefrorenen Boden praktisch „herausgepökelt“ werden.

Viele Tage dauerte diese alle Kräfte beanspruchende Plackerei.

Im Frühjahr wurden dann die Rebstöcke und die Weinbergpfähle gekauft und mit Hilfe von Gustavs Kuhgespann an den Fuß des Hangs geschafft.

Die Pfähle wurden seitlich in die Löcher gerammt, die Rebstöcke hineingestellt und mit Erde überdeckt; wenn kein Regen zu erwarten war, mussten sie jeden zweiten Tag gewässert werden.

Die monatelange Arbeit war jetzt endlich zu Ende, der „Wengert“ war fertig.

Die Rebstöcke standen in Reih und Glied und zeigten bald die ersten Triebe.

Kein Mensch im Dorf fand die Arbeit dieser 2 Männer besonders erwähnenswert, aber für mich ist sie heute noch ein Sinnbild von Durchsetzungsfähigkeit, Zähigkeit und eisernem Willen.

Zwei bis drei Jahren mussten wir noch warten, bis die ersten Trauben herangereift waren.

Als der Wengert später voll „im Betrieb“ war, erbrachte die Lese – sie war immer ein festliches Erlebnis - im Herbst etwa 1000 Liter Wein, und wir taten das Jahr über alles, dass im nächsten Herbst die Fässer zur Aufnahme für die neue Ernte wieder bereit waren.

                                   - Arbeiten im „Wengert“ -

 

Nur ein paar Wochen im Winter beansprucht ein Weinberg seine Besitzer nicht.

Schon im Februar beginnt der Jahresreigen der Arbeiten rund um die Reben.

Sie müssen zurückgeschnitten und dann wieder an die Drähte angebunden werden.

Nach den ersten Regenfällen wurde damals der Boden mit dem Karst tief umgeharkt, im Jahresverlauf wurde er dann mehrmals mit der Harke aufgelockert.

Eine wichtige Arbeit war das Spritzen gegen Schädlinge und vor allem Peronospora.

In den ersten Jahren war dies ein sehr mühsames Geschäft, denn das dafür notwendige Wasser mussten wir von zuhause mit Eimern und Bottichen mit dem Ziehwagen die 2 km zum "Unteren Berg“ hinauf transportieren; die Verluste unterwegs waren enorm. Erst an Ort und Stelle wurden dann die Chemikalien unter heftigem Rühren mit dem Wasser vermischt.

Mit dem manuell zu bedienenden „Spritzbutten“ stapfte mein Vater durch die Reihen und sprühte die Giftbrühe auf die Blätter.

Ich musste ihm in zwei Eimern die Brühe zum Nachfüllen hinterhertragen.

Pech für mich war es immer, wenn der „Spritzbutten“ oben auf dem Berg leer geworden war, denn dann hieß es, die nahezu 20 Kilogramm Spritzbrühe den steilen Hang nach oben zu schleppen.

- Wengerthäuschen -

 

Ein paar Jahre später wurde es leichter für uns.

Auf dem Küchentisch entwarf er den Plan eines „Wengerthäuschens“.

Akribisch zeichnete er die Seitenwände, das Dach und vergaß auch nicht, an der späteren Südseite die Türe einzupassen.

Wichtig waren auch die zwei Dachtraufen, um das Regenwasser einzusammeln, denn dies ersparte uns die Mühen, die mit dem Wassertransport verbunden gewesen waren.

Immer wieder verließ er die Küche und überprüfte auf dem Hof seine fiktiven Maße auf ihre spätere Brauchbarkeit.

Als er mit seiner Arbeit fertig und zufrieden war, ging er zum „Schreinerweiß“ rüber, bestellte die notwendigen Bretter und ließ sie sich vor dem Abholen gleich zuschneiden.

Im Hof wurde das Häuschen dann komplett aufgebaut; auch das Dach und die Traufen wurden angebracht.

Für die vier Eckpfosten goss er sich mit Hilfe von vier alten Eimern die Betonklötze, die sie später aufnehmen sollten.

Bevor er sein Wunderwerk wieder in seine Einzelteile zerlegte, nummerierte und kennzeichnete er sie mit Zahlen und schwarzen Farbmarkierungen.

Eines Tages machte ich mich früh morgens zu meinem bekannten und gewohnten Gang zum „Augustonkel“, holte das Kuhgespann aus dem Stall, spannte es vor den Wagen und trabte mit ihm durch das Dorf zum Haus in der Neuen Bahnhofstraße mit der Nummer 7.

Als das Häuschen auf dem Wagen verstaut war, machten wir uns auf den Weg zum "Unteren Berg“.

Sinnvoll und ökonomisch wäre es gewesen, die Hütte in der geografischen Mitte des Weinbergs aufzustellen, denn dies hätte die Laufwege beim Spritzen halbiert.

Warum er es aber ganz oben aufbaute, weiß ich nicht. Möglicherweise wäre es ihm zu mühsam gewesen, alles in die Mitte hinauf- bzw. hinunterzuschaffen.

So mühten sich die zwei Kühe mit ihrer Last den „Viehtriebweg“ hinauf, sodass wir ganz oben die Teile abladen konnten.

Gegen Mittag thronte sein Werk in luftigen Höhe.

Nahtlos hatte alles gepasst. Die zwei Dachtraufen endeten innen und sollten kommendes Regenwasser in zwei beim "Burgahn“ erstandene Plastikfässer leiten.

Eine weitere Erleichterung sollte später der Kauf einer benzinbetriebenen Spritze bringen; durch sie wurden meine Laufwege stark eingeschränkt, und sie brachte so eine große Erleichterung.

                             - Vom „Wengert“ auf den Tisch -

Wie bereits kurz erwähnt, war der Höhepunkt im Jahresreigen eines „Wengerters“ die Traubenernte, die Lese.

Bereits Wochen vorher wurden die Bütten und die Fässer überprüft und gereinigt, wobei vor allem die Säuberung der Fässer eine recht mühsame und aufwändige Arbeit war.

Wir hatten vier Fässer mit insgesamt 1000 Liter Fassungsvermögen.

Sie mussten zunächst einzeln den schmalen und relativ steilen Kellergang heraufgeschafft werden, bevor dann mit einem Spezialhammer die oberen drei Eisenreifen entfernt werden konnten.

Nachdem dann das Fass von restlicher Flüssigkeit und gröberen Weinsteinbrocken befreit worden war, musste ich meiner Rolle als „Fasskriecher“ gerecht werden. Ich kroch also in das Fass und schrubbte mit einer harten Bürste den Boden und die Innenwände sauber.

Anschließend platzierte mein Vater getrocknete Schilfbahnen zwischen die einzelnen Bretter („Dauben“), stülpte nacheinander die einzelnen Eisenbänder wieder drüber und hieb sie mit kräftigen Schlägen mit dem Spezialhammer (er hatte längs eine schmale Kerbe) fest.

Zum Schluss wurde wiederum der Deckel eingepasst; auch hierbei durfte das Schilf nicht vergessen werden.

Beendet wurde die Arbeit an den Fässern, indem 30 bis 40 cm lange „Schwefelschlutten“ angezündet und in sie hineingehängt wurden; ich vermute, sie sollten die Fässer desinfizieren.

Als der große Tag dann gekommen war, wurde die große Bütte, der Tragebutten, Eimer, Messer und Scheren sowie allerhand Kleinkram auf den Leiterwagen des Kuhgespanns verladen und hinunter ging`s dann zum „Unteren Berg“.

Vor allem bei schönem Wetter herrschte bereits morgens eine aufgeheiterte, lustige und fröhliche Stimmung.

Die Schnitterinnen und Schnitter wurden dann auf die einzelnen Reihen verteilt; die abgeschnittenen Trauben warfen sie in ihre mitgeführten Eimer und die wiederum kippten sie, wenn sie voll waren, in den Tragebutten, den mein Vater dann bei Bedarf in die große Bütte auf dem Leiterwagen ausschüttete.

Bei jedem Butten, den er ablud, schnitzte er eine Kerbe in seinen mitgeführten Stock; so ließen sich die Erträge der einzelnen Jahre gut vergleichen.

Um die Mittagszeit sammelte ich Holz und entfachte ein kleines Feuer, auf dem dann die Fleischwürste heiß gemacht wurden, so dass sich wenig später alle im Kreis darum versammelten und sich ihr einfaches Mahl schmecken ließen.

Am frühen Nachmittag war alles beendet, und wir machten uns auf den Heimweg, allerdings nicht, bevor ich zuvor noch ein kleines Bündel Akazienäste sammeln musste, das später in der großen Bütte Verwendung finden sollte.

Zuhause wurde das Fuhrwerk in den hinteren Hof bugsiert, wo bereits die große Bütte mit der Raspel vorbereitet war.

Mein Vater schüttete dann den Inhalt der Bütte auf dem Fuhrwerk Eimer für Eimer in die Raspel, deren Kurbel wir bedienen mussten, was nicht einfach war.

Gegen Abend hatte sich all die schöne Traubenpracht in eine glitschige Masse aus Traubenkämmen und süßem Saft verwandelt; meistens war die Bütte randvoll (1000 Liter).

Bei warmem Wetter begann der Gärvorgang sofort und dauerte dann etwa ein bis zwei Wochen; die Maische musste ich jeden Tag einige Male mit einer Harke umwälzen.

Die Bütte stand etwas erhöht auf vier Holzbohlen, so dass man nach etwa zwei Wochen den Spunten entfernen und den herausströmenden Wein in Eimern auffangen konnte; er wurde in den Keller hinuntergetragen und über den aufgesetzten Holztrichter in die jeweiligen Fässer geschüttet.

Dort vergor er vollends, bis dann im Frühjahr wieder eine harte Arbeit auf Erledigung wartete: Der Wein musste abgelassen, die Fässer aus dem Keller geholt und gereinigt werden, bevor dann der Wein wiederum in sie abgefüllt werden konnte.

                                                                                                     - Most -

Neben den 1000 Liter Wein, die wir pro Jahr produzierten und verbrauchten, mussten wir ja auch noch unsere zahlreichen Äpfel- und Birnenbäume abgeerntet werden.

Sie lieferten ebenfalls etwa 1000 Liter Flüssigkeit, in diesem Fall eben Most.

Das Obst brachten wir nach Schütteln, Zusammenlesen und Einbringen in Säcke zu einem der drei Nachbarn, die die entsprechenden Geräte zur Verarbeitung besaßen und gegen ein geringes Entgelt zur Verfügung stellten.

Meistens mahlten und pressten wir beim Eigenmann, vier Häuser südlich von uns.

Im Gegensatz zur Obstmühle, die elektrisch angetrieben wurde, musste die Saftpresse manuell bedient werden.

 Sie wurde in mehreren Lagen mit dem Mahlbrei befüllt und dann an einem langen Hebel bedient.

Der herausgepresste Saft wurde in einem Bottich aufgefangen.

Aus ihm schöpfte ich dann den Saft eimerweise in ein ca. 50-Literfässchen, das im Ziehwagen lag.

Wenn es gefüllt war, zog ich die Fuhre nach Hause und trug den Süßmost wiederum eimerweise in den Keller, wo die Fässer bereits darauf warteten, mit ihm befüllt zu werden.

Beim Lesen des Vorangegangenen kann schon ein leichter Verdacht entstehen, dass es sich bei den damalig Handelnden doch um mehr oder minder schwere Fälle von Alkoholiker handeln könnte; eine Familie mit zwei Erwachsenen und vier minderjährigen Kindern verputzt jährlich 1000 Liter Wein und 1000 Liter Most.

Das ist doch schon allerhand.

Dieses Ansinnen bedarf strikten und vehementen Widerspruchs.

Warum?

Die Menschen damals haben beträchtlich Alkoholmengen zu sich genommen, aber sie haben auch körperlich hart gearbeitet; heute findet sich in vielen Fällen nur das Erste.

Dann gab es damals neben Wein und Most nur noch Wasser als Durstlöscher, und bei den Arbeiten auf den Feldern und im Weinberg waren oft viele Menschen beteiligt; vielfach wurden Wein und Most mit glasklarem Wasser, das man den überall sprudelnden Quellen entnahm, vermischt, so dass es von jedem genossen werden konnte; manche Flasche Wein wurde auch verschenkt.

Erst in den frühen 60-er Jahren tauchten Bier, Mineralwasser und weitere Getränke auf.

Das Bier der Weigert-Bräu, das es schon bald nach Kriegsende gab, konnten wir uns allerdings anfangs nicht leisten.

- Winter –

 

Dieser Begriff hat für uns heute seine eigentliche Bedeutung verloren; die letzten Jahre haben wir hier nahezu all dies nicht mehr erlebt, was sein Wesen und seine vielfältigen Erscheinungsformen ausmachen.

Die Winter in den Kriegsjahren und bis 1950 müssen teilweise sehr schlimm gewesen sein; ich erinnere mich noch gut an die extremen Winter 1944/45 und 1947/48, vor allem an letzteren.

Warum litten wir alle unter der Kälte?

Da war zum einen der Zustand der Häuser, und zum anderen lag es an unserer Kleidung.

In der Regel war der einzige beheizbarme Raum die Küche, wo ein Herd sowohl die Koch- und auch gleichzeitig die Heizfunktion übernehmen musste.

Er durfte bis spät abends nie ausgehen.

Gefüttert wurde er mit Holz und Kohlen; zwischenzeitlich wurde das Feuer mit Briketts am Leben erhalten.

Das Holz lieferten uns alte Bäume, manchmal wurde auch ein oder mehrere Ster dazu gekauft.

Später erschien dann der "Holzsäger" mit seiner Maschine und zersägte alles in handliche Zylinder; das anschließende Weiterverarbeiten mit Axt und Beil in ofenfertige Holzscheite oblag dann mir.

Mit Hilfe einer von Vater gebastelten Zugvorrichtung hievten wir anschließend den gesamten Stapel an der Hauswand hoch in den Speicher.

Die im Frühjahr beim Rebschnitt angefallenen Reben hatten wir gebündelt nach Hause transportiert und auf dem Schopfen verstaut. Sie wurden zum Anzünden verwendet.      

Die Kohlen mussten wir vor dem Winter in der Nähe der Güterhalle abholen.

Der „Kohlen-Mayer“ schippte sie aus dem Eisenbahnwaggon, und wir mussten sie in die bereitgestellte Waage verladen.

Wenn der Zeiger die Zentnermarke (50 kg) erreicht hatte, musste ich den Kohlensack an die Öffnung halten, und mein Vater kippte die schwarze und staubige Pracht hinein.

Drei Säcke konnten wir auf unserem Handwagen verstauen, dann keuchten wir mit der Kohlenfracht den „Bahnhofsbuckel“ hinauf und trugen unsere Schätze in den Keller. Etwa 10 Zentner pro Winter bekamen die „Eisenbähnler“ von ihrem Arbeitgeber zu etwas reduziertem Preis.

Die anderen Räume in unserem Haus konnten nicht beheizt werden; jeden Morgen waren so alle Fenster mit dicken Eisblumen bedeckt.

Es waren phantastische Kunstwerke, auf die wir aber gerne verzichtet hätten.

Brutal wurde es natürlich abends, wenn wir in unser Schlafzimmer gehen mussten. Mutter half uns manchmal, indem sie Backsteine im Backofen des Herdes aufwärmte, sie dann mit Tüchern umwickelte und uns mit ins Bett gab.

Da die Häuser nicht isoliert waren, froren manchmal die Wasserleitungen ein, und wenn sie unsachgemäß aufgetaut wurden, platzten sie oft. Dann half nur noch eines: Runter in den Keller und den Zentralhahn zudrehen. Für eine Weile gab es dann eben im ganzen Haus kein Wasser mehr.

Da es auch noch keine Kanalisation gab, floss alles Wasser aus der Küche, aus den Dachrinnen, aus sonstigen Räumen und den Ställen am Hausrand entlang hinaus in die Straßenrinne.

Mit Beil und Axt mussten die dick mit Eis überzogenen Gehwegplatten morgens oft frei gehackt werden.

In manchen Jahren lähmten auch Unmassen von Schnee das Dorf und blockierten nahezu jedes Fortkommen, so dass tagsüber ein von vier Pferden gezogener Schneepflug die Dorfstraßen einigermaßen freihielt. Die wenigen Autos, die es nach dem Kriegsende im Dorf gab, hatten lange Zeit ihre Ruhe.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie an manchen Morgen mein Vater mit Schippe und Besen einen schmalen Pfad zum Stall hinüber freischaufeln musste, um Hühner und Schweine füttern zu können.

Damit wir Kinder überhaupt zur Schule rübergehen konnten, mussten uns die Männer vorher auf der Straßenmitte ebensolche Gassen schaffen.

Einen Nebeneffekt der damals noch nicht vorhandenen Kanalisation nutzten wir Buben weidlich aus, denn die im ganzen Dorf dick mit Eis bedeckten "Straßenrinnen“ waren ideale Schlittschuhbahnen; überall im Dorf sausten wir auf ihnen herum.

Ebenso tummelten wir uns mit unseren „Absatzreißern“ auf den dicken Eisflächen der "Bombentrichter“, einem Überbleibsel der Angriffe der amerikanischen Flugzeuge auf Munitionszüge.

In jeder freien Minute bewegten wir auch unsere Schlitten, einzeln und manchmal im Pulk.

Der „Bahnhofsbuckel“ war sehr beliebt, weil nahe; gefahren wurde aber auch am "Duchbuckel“ am östlichen Ende der Friedrichstraße.

Außerhalb des Dorfes trieben wir unsere Schlitten über die Hänge am „Unteren Berg“, dem „Rietbuckel“ und vor allem über die verschiedenen Abfahrtsmöglichen, welche die Ravensburg bot.

Das „Steile Dach“ in der Nähe des Schießstandes blieb den Könnern vorbehalten.

Um 1952 muss es gewesen sein, als wir uns aus Fassdauben zum ersten Mal primitive Skier zusammenbastelten und mit Hilfe von Weinbergpfählen als Skistöcken die Hänge hinunterrutschten.

Als das für uns tollste „Nebenprodukt“ der strengen Winter empfanden wir die immer wieder verordneten "Kohlenferien“; sie genossen wir stundenlang im Schnee und auf dem Eis.

Bei vielen fehlte es allerdings auch an schützender Kleidung und vor allem an brauchbaren Schuhen.

Zu kaufen gab es nicht viel bzw. man konnte es sich nicht leisten, warme Wintersachen anzuschaffen (einer Nachbarsfamilie mit sechs Kindern standen nur zwei Paar Schuhe zur Verfügung).

Stricksachen mussten als Ersatz herhalten; sie genügten auch in der Regel, aber eines dieser Utensilien hasste ich wie die Pest.

Da unsere langen Hosen zu dünn waren, mussten wir darunter gestrickte Strümpfe anziehen. Noch heute überspült mich ein Grausen, wenn ich nur daran denke, wie ich morgens kurz vor sechs Uhr - der Zug nach Eppingen fuhr um 6.30 Uhr ab - auf der Eckbank saß und diese Strümpfe millimeterweise hochzog, wieder nach unten stieß und doch irgendwann weitermachen musste.

Befestigt wurden sie dann am Oberschenkel mit Gummibändern, die man normalerweise bei den Einmachgläsern verwendete; den Mädchen half eine Art von Strapsen.  

Wenn es wieder richtig kalt geworden war, teilten Arbeiter auf den Wiesen neben dem Kohlbach Richtung Zaisenhausen mit etwa 50 cm hohen Brettern eine 20x20 m große Flächen ab, die sie mit dem Wasser des umgeleiteten Kohlbaches auffüllten.

Nach einigen Tagen wurde das entstandene Eis mit Stichsägen herausgeschnitten und in etwa 20x20x100 cm großen Quadern auf mit Stroh ausgelegten Bauernwagen abtransportiert.

Der größte Teil davon wurde in die relativ kalten Keller bei Herrn Rückel in die Weigert-Brauerei verfrachtet und kühlte dort bis in den späten Sommer seinen Gerstensaft.

Wenn er etwas davon entbehren konnte, holten sich auch manche Kaufleute ab und zu einen Eisbarren; unsere Nachbarin, Frau Kunzmann - sie betrieb einen kleinen Kolonialwarenladen - schickte mich manchmal mit unserem Leiterwagen zum Rückel runter, um einen der Barren zu holen. Sie zerstückelte ihn dann und schüttete die Eisbrocken in eine Metallwanne, in der sie verderbliche Waren aufbewahrte.

So hart es damals war, den langen und anstrengenden Wintern ihre Freuden abzutrotzen, umso so intensiver haften diese Erlebnisse bis heute; und heute, wo wir sie genussvoller gestalten könnten, gibt es sie nicht mehr.          

Paradoxe Welt!

- Kirschen –

Da meine Mutter aus dem benachbarten Ochsenburg stammte, hatte sie nach dem Tod ihrer Eltern drei Äcker geerbt.

Sie wurden an Bauern im Dorf verpachtet.

Zwei davon wurden als Fruchtäcker bewirtschaftet; eines der Grundstücke war ein Wiesenstück mit einem großen Kirschenbaum.

Es lag unweit des Bauernhofes Schickner, einer heute renommierten Besenwirtschaft.

Jedes Jahr im Herbst machte ich mich auf nach Ochsenburg und holte die fällige Pacht ab.

Da im Württembergischen die obligatorische Unfallversicherung vom Grundstücksbesitzer bezahlt wurde – im Gegensatz zum Badischen, wo sie der Pächter entrichten musste – deckten irgendwann die Pachteinnahmen nicht mehr die Versicherungsgebühren, sodass wir uns 1996 entschlossen, die knapp 80 ar zu verkaufen, was sich kurze Zeit danach als schwerer Fehler erweisen sollte, denn ab Anfang 1997 mussten auch bei den Schwaben die Pächter die Unfallversicherungsgebühren übernehmen.

Diese Gebührenpraxen sollen hier aber nur am Rande angeführt werden.

Im Mittelpunkt des Nachfolgenden soll der bereits oben erwähnte Kirschenbaum stehen.

Dieser mächtige Baum war jedes Jahr einmal das Ziel einer Gruppe von Sulzfeldern, die sich an einem schönen Tag im Juni früh morgens mit drei vollgepackten Leiterwagen durch den Ochsenburger Wald hinauf aufmachte, den reichen Segen dieses Baumes einzuholen.

Als dann die Himmels und Belschners nach knapp zwei Stunden im Schwäbischen angekommen waren, lieh man sich zunächst bei Schickners zwei große Leitern, denn ohne sie war an den Kirschenschatz nicht ranzukommen.

Dann wurde gepflückt, was das Zeug hielt.

Frauen und Kinder kümmerten sich um die unteren Äste, meinem Vater, Christian Belschner, seinem Sohn Volker und mir war es vorbehalten, die höheren Teile des Baumes von seinem reichen Schatz zu befreien.

Während die beiden Männer die Leitern benutzen durften, mussten Volker und ich uns durch das Geäst des Baumes hangeln; wenn unsere kleinen Körbe voll waren, ließen wir sie zum Ausleeren an Stricken hinunter.

Es herrschte ein lustiges und fröhliches Treiben auf und rund um den Baum.

Zur Mittagsstunde wurde das mitgebrachte Essen ausgepackt, verzehrt und anschließend wurde weitergepflückt, bis dann am späten Nachmittag die Weidenkörbe in den Leiterwagen nichts mehr fassen konnten. Auch alle anderen Körbe und Eimer waren gefüllt und irgendwo auf und rund um die Wagen angebracht worden.

Alle waren mehr oder minder erschöpft oder müde, aber der 5 km lange Heimweg durch den Ochsenburger Wald musste noch bewältigt werden.

Unterwegs wurde es immer ruhiger, im Wald war es oft bereits dunkel.

Manchmal hatten wir Kinder Glück, wenn Vater irgendwo auf den Leiterwagen noch eine winzige Möglichkeit entdeckt hatte, uns abwärts durch den Wald auf dieses freie Plätzchen zu verfrachten.

Immer wieder – mit Fahrrad oder Auto – bin ich auf dieser Strecke unterwegs, und obwohl diese Erlebnisse bereits weit über 65 Jahre zurückliegen, empfinde ich jedes Mal beim Eintauchen in den oberen Waldeingang diese seltsame Atmosphäre, die damals immer zu spüren war.

Nach der Ankunft in Sulzfeld wurden die Körbe ausgeladen und die Kirschenernte gerecht verteilt.

Am nächsten Morgen machten sich die Frauen daran, die Kirschen zu verarbeiten; der Großteil wurde in Einmachgläsern eingedünstet, ein kleinerer Teil wurde zu Marmelade verarbeitet. Als allererstes gab es aber einen Kirschkuchen.

Um das Jahr 1960 wurde dann alles anders. 

Meine Schwester Elke hatte geheiratet, ihr Mann Herbert hatte einen kleinen Borgward-LKW, und ich hatte den Führerschein.

Diese Konstellation erleichterte die jährlichen Ausflüge nach Ochsenburg, beendete aber auch eine schöne Phase unseres Lebens; eine unvergessliche „Kirschenromantik“ war ein für alle Mal zu Ende.

-  Konfirmation  -

Seit September 1953 traf sich mein Jahrgang zweimal in der Woche im Gemeindesaal zum Konfirmandenunterricht.

Pfarrer Schwarz tat alles, um die etwa achtzig Aspiranten auf die im nächsten April vorgesehene Konfirmation vorzubereiten; eine Unmenge an Liedversen, Katechismussprüchen, Psalmen und Bibelteile mussten von uns auswendig gelernt werden. Eine Woche vor der „Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen“ begannen überall in den Familien die Vorbereitungen für das Fest nach dem Akt in der Kirche; im Gegensatz zu heute, feierte man meistens zuhause.

Am Mittwoch ging es mir noch gut, am Donnerstagmorgen bekam ich aber heftiges Nasenbluten, das während des Tages und in der Nacht auf Freitag nicht zu stoppen war.

Durch die Nase rann es unaufhörlich, und das geschluckte Blut musste ich in schwarzen Klumpen erbrechen.

Gegen Mittag des Freitags standen drei Ärzte um mein Bett herum, konnten mir aber nicht helfen; das Blut floss immer weiter.

Am frühen Nachmittag waren sie sich einig, dass Hilfe nur in einem Krankenhaus zu erwarten war, vor allem auch deshalb, weil noch hohes Fieber dazu gekommen war.

Meine Mutter ging dann zum „Schreiner-Weiß“ rüber und fragte ihn, ob er mich nicht   ins Krankenhaus nach Bruchsal fahren könnte.

Kurze Zeit später stand er mit seinem Opel P4 vor unserem Haus, und etwa eine Stunde später lag ich in einem Zwölfbettenzimmer im Bruchsaler Krankenhaus.

Am nächsten Morgen kam eine Ärztin und „fuhrwerkte“ mit einer langen, an der Spitze heißen Nadel, in den oberen Arealen über der Nasenwurzel herum.

Es roch komisch und tat höllisch weh, aber das Blut versiegte.

Nach Hause konnte ich aber nicht, denn das immer noch hohe Fieber ließ   eine Entlassung nicht zu.             

Im Laufe des Samstags stellte man dann fest, dass es seine Ursache in einer starken Lungenentzündung hatte.

Penicillin gab es damals schon, allerdings nicht für Arbeiterkinder.

Die Ärzte griffen dann zu einer Prozedur, die ich nie vergessen werde.

Zweimal am Tag erschienen eine Krankenschwester und zwei Pfleger.

Ich musste mich auf den Bauch legen, die Pfleger hielten mich an beiden Armen fest, und die Schwester legte mir ein mit einem braunen Sud überzogenes Leinen auf den Rücken.

Bereits beim ersten Kontakt empfand ich meinen Rücken nur noch als eine schmerzende Hölle und schrie wie am Spieß.

Wie ich später erfahren sollte, war die braune Masse ganz stinknormaler Senf, und was mir jetzt auch klar wurde, war der Umstand, warum für diese Prozedur zwei Pfleger notwendig waren, denn ohne ihr Festhalten hätte wahrscheinlich niemand solche Pein ausgehalten; so half all mein Brüllen und Strampeln nichts, ich musste einfach durchhalten.

Nach etwa ein bis zwei Minuten hob die Schwester das Tuch wieder von meinem Rücken ab, reinigte ihn und bestrich ihn mit einer Salbe.

Kurzum:

Diese Prozedur musste ich täglich eine Woche über mich ergehen lassen, stellte aber fest, dass die Schmerzen von Tag zu Tag weniger wurden; am Ende der Woche spürte ich überhaupt nichts mehr, und das Fieber war verschwunden.

Nach zwei Wochen brachte mich ein Ambulanzwagen nach Hause, wo ich noch eine weitere Woche im Bett lag und von meiner Mutter mit Hühnerbrühe und „Ei im Wein“ wieder aufgepäppelt wurde.

Konfirmiert war ich aber immer noch nicht.

Drei Wochen später sollte die Aktion dann durchgeführt werden; der Großteil meiner Klassenkameraden-/innen nahm daran teil, alle in ihrem Konfirmandendress.

Ich bin ihnen heute noch dankbar dafür.

Was mich aber bis heute noch irritiert und ärgert, war das Verhalten von Pfarrer Schwarz.

Zwei Tage vor der Einsegnung bat er mich zu sich ins Pfarrhaus und besprach mit mir den Ablauf.

Wir vereinbarten auch genau die Texte, die er mich abfragen wollte.

Als ich aber bei ihm auf dem Altar stand, vergaß oder ignorierte er unsere Abmachung und frage mich kreuz und quer durch Gesangbuch, Bibel und Katechismus, weit über zehnmal.

Falls er mich bloßstellen wollte, hatte er keinen Erfolg damit, denn ich wusste alles.

Zu seinen Gunsten unterstelle ich ihm eine kurze Phase der Vergesslichkeit.

Zweihundertundzwölf Mark erbrachten die Spenden meiner Verwandten, die sich am Sonntag nach der Einsegnung in unserem Wohnzimmer zu einem Festessen versammelt hatten.

Exakt diesen Betrag gab ich für einen bis zu diesem Punkt meines Lebens einmaligen und wunderschönen Gegenstand aus: einem Fahrrad.

Woher ich den Prospekt oder den Katalog hatte, weiß ich nicht mehr, aber auf jeden Fall bestellte ich ein grünes Herrenrad der Marke „Tripad“ mit einer 3-Gang-Torpedo-Kettenschaltung; zwei Wochen später schob es Herr Belschner gut verpackt aus der Güterhalle beim Bahnhof, und ein paar Minuten stand es in unserem Hof. Ich konnte es kaum fassen.

Ich befreite es aus dem Karton, schraubte die Pedale und die Lichter an, stellte die passende Sattelhöhe ein und drehte die erste Runde um die „Bäreninsel“.

Diesem Objekt galt in den nächsten 18 Monaten meine ganze Zuwendung und Aufmerksamkeit (was in der Folge allen meinen fahrbaren Untersätzen widerfuhr).

Es war ständig auf Hochglanz poliert, und jeden Abend transportierte ich es in unser Wohnzimmer.

Jeden Tag flitzte ich mit durch das Dorf und darüber hinaus.

Später stattete ich es noch mit einem Tachometer aus.

Die erste größere Tour unternahm ich mit ihm am 1.Mai 1954 zusammen mit einigen Klassenkameraden nach Besigheim.

Im Frühjahr 1956 wurde es durch mein "Quickly“ ersetzt.

Mein Vater benutzte das Fahrrad noch einige Jahre zur Fahrt an seine Arbeitsplätze an den Bahnwärterhäuschen, aber dann stand es jahrelang vergessen irgendwo herum, bis ich es 2005 gründlich reinigte, zerlegte und auf den Speicher im Ballreich 4 verfrachtete; dort liegt es noch heute.

- Biberach –

In Stellung

Meine Mutter hatte zwei ältere Schwestern: Alma und Rosa.

Wie anfangs des letzten Jahrhunderts üblich, wurden viele Mädchen der unteren Schichten „in Stellung“ geschickt, d.h., sie arbeiteten und wohnten bei Großbürgern und Adligen als Dienstmädchen.

Es muss um das Jahr 1928 gewesen sein , als man Rosa zu einer Pfarrersfamilie nach Biberach an der Riß schickte; wie und von wem dieser Deal eingefädelt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Nach einigen Jahren in der Martin-Lutherstr.8 in Biberach kam Rosa wieder nach Ochsenburg zurück, und ihre Schwester Alma nahm ihre Stelle ein.

Diese hielt es bei Pfarrers aus verschiedenen Gründen nicht lange aus; einer davon muss Heimweh gewesen sein.

Also musste Rosa wieder ran.

Sie blieb dann den Rest ihres Lebens in der Martin-Lutherstraße, allerdings im Haus mit der Nummer 13.

Dort war die Frau des Eigentümers Konrad Grözinger gestorben, und Rosa nahm ihren Platz ein.                                                                

All diese Schicksale sollten sich auch auf mein Leben auswirken, denn viele Erlebnisse und Begebenheiten – positive wie unerfreuliche – verbinden mich noch heute mit diesem Ort.

1944 fuhr ich zusammen mit meiner Mutter zum zweiten Mal über Heilbronn, Stuttgart und Ulm nach Biberach; Opa Schmol war gestorben und in der „Guten Stube“ aufgebahrt worden.

Als wir vor dem Sarg standen, und meine Mutter mich darauf hinwies, dass der arme Opa jetzt nichts mehr sehen konnte, gab ich laut vernehmlich den Rat von mir, dass man ihm doch einfach eine Brille aufsetzen solle.

Ich vermute, pflichtbewusst dokumentierte sie durch Mimik und Gestik ihre Scham über das ungezogene Verhalten ihres Vierjährigen.

- Schützenfest -

Durch die Tätigkeit meines Vaters bei der „Eisenbahn“ waren wir alle ausreichend mit "Freischeinen“ versorgt, so dass unsere Fahrten nach Oberschwaben immer kostenlos waren.

Am schönsten waren die Besuche anlässlich des berühmten Biberacher „Schützenfestes“.

Zwei Wochen lang feierten sie es in vielfältigster Art und Weise:

Mit einem kilometerlangen Umzug, Theateraufführungen, Wettspielen, kulturellen Darbietungen, Zunfttänzen, Platzkonzerten, Biberschießen, Lagerleben, Gauklerfesten und einem großen Vergnügungspark oben auf dem "Giglberg".

Neben diesen nahezu jährlichen Besuchen war ich immer wieder mal zu Besuch bei "Rosatante“, manchmal nur für ein paar Tage.

Nur einmal nahm diese Phase eine andere Dimension an: vier Wochen meiner Sommerferien 1950 durfte/sollte ich in der Martin-Lutherstr. 13 verbringen.

Es wurde die schmerzlichste Zeit meines jungen Lebens.

Zusammen mit meiner Schwester brachte mich Mutter nach Biberach.

Als ich sie in Begleitung von Rosatante ein paar Tage später zum Zug für die Rückreise zum Bahnhof begleitete, spürte ich zum ersten Mal dieses beklemmende, bis dahin unbekannte Gefühl, das mich vier Wochen beherrschen und belasten sollte.

Als dann der Zug in der Ferne und in Rauchschwaden entschwunden war, überfiel es mich gewaltig.

- Heimweh -

Alles, was sich Konradonkel, Rosatante, ihr Sohn Bertl und seine Frau Traudl in den nächsten Tagen und Wochen an Ablenkungen einfielen ließen, half mir in keinster Weise; das Heimweh war übermächtig, ließ keinen Raum für anderes.

Ich reagierte auf keine Ermunterung, keine angebotene Unternehmung und wandelte wie paralysiert durch die Tage.  

Ich markierte auf einem Kalender die verflossenen Tage, verschmähte das beste Essen, lief immer wieder zum Bahnhof und sehnte mich in die Richtung Ulm und Stuttgart abfahrenden Züge, hatte sogar an den Spielen des FV Biberach auf dem Giglberg keinen Spaß und wollte nur eines: nach Hause.

Wie viele Male zog ich das von Bertl bereit gestellte Grammophon auf, legte die einzige vorhandene Platte darauf und lauschte dem „I hab rote Haar, feierrote Haar sogar“, nur um wieder mal etwa zwei Minuten hinter mich zu bringen.

Meine Briefe nach Hause wurden nicht beantwortet. Es half alles nichts.

Aber auch diese vier Wochen gingen rum, und als dann mein Vater, meine drei Schwestern und meine Kusine Heidi aus dem Zug stiegen, sah die Welt wieder anders aus. Erleichtert – auch im wahrsten Sinn des Wortes – gab ich ihnen die Hand, und zusammen machten wir uns auf den Weg zur Martin-Luther-Str.13.

Nach einem weiteren Tag bei " Rosatante“ starteten wir eine denk-          würdige Heimreise. Da die Raddampfer auf dem Bodensee im Besitz der Eisenbahn waren, hatten auf ihnen auch unsere Freischeine Gültigkeit.

Diesen Umstand wollte mein Vater ausnützen und seiner Schar auf der Rückreise Interessantes bieten.

- Heimfahrt -

Wir fuhren also mit dem Zug von Biberach zum Stadtbahnhof Friedrichshafen, wo wir in die „Hafenbahn“ wechseln mussten, die in wenigen Minuten die zwei Kilometer zum Bodensee zurücklegte.

Als wir ausstiegen, und ich auf diese für mich unvorstellbar riesige Wasserfläche hinaussah, erklärte mir sich der Begriff "Staunen" von alleine; es war unfassbar.

Plötzlich entdeckte ich ein Schiff und wiederum war nur dieses eine Wort angemessen: Es war die „Hohentwiel“, ein alter Raddampfer, ein wunderschönes, mächtiges Schiff.

Wir liefen noch eine Stunde auf dem Kai hin und her, zeigten dann beim Betreten der "Hohentwiel" unsere Freischeine und waren plötzlich an Bord dieses stolzen Schiffes.

Wir standen gerade am Treppenaufgang zum hinteren Deck, als wir lautes, ängstliches Schreien vernahmen: Meine Kusine Heidi stand draußen vor der Gangway, weinte und schrie fortwährend nur den einen Satz: “Mamale, Mamale, do geh i net nei“.

Wir mussten zurück und ihr minutenlang gut zureden, bis sie sich schließlich überwand und doch an Bord kam.

Wir überquerten den Bodensee, legten am Hafen in Konstanz an und fuhren mit einem Lokalzug nach Radolfzell. Dort sollten wir in den Schnellzug nach Karlsruhe einsteigen.

Doch dieser ließ auf sich warten.

Als er dann endlich aus Konstanz kommend in den Bahnhof einfuhr und dabei die angezeigte Abfahrtszeit um mehr als zwei Stunden überschritte hatte, war klar, dass wir in Karlsruhe unseren Anschlusszug nach Sulzfeld an diesem Tage nicht mehr erreichen würden.

Dem war auch so.

Obwohl wir von den Sehenswürdigkeiten einer der schönsten Bahnstrecken in Deutschland nichts mitbekamen–ich bin später oft auf dieser Route mit meinen Klassen zum Bodensee gefahren- erreichten wir kurz vor Mitternacht müde den Hauptbahnhof in Karlsruhe.

Zum Glück hatte die Bahnhofsmission noch geöffnet; in ihr konnten wir bis zum nächsten Morgen unterkommen, bis wir dann den Dampfzug auf seinem Weg nach Heilbronn in Sulzfeld verließen.

Vier lange – teilweise leidvolle – Wochen waren für mich zu Ende gegangen.

 

- Beim Sponerbauern -

Es muss 1955 gewesen sein, als ich wieder mal einen Freischein erbettelte, als Fahrtziel "Biberach an der Riß“ eintrug, meinen Sportsack packte und über Heilbronn, Stuttgart und Ulm zu "Rosatante" fuhr.

Es war im Sommer, denn ich weiß noch, dass ich am Tag nach der Ankunft zusammen mit Rosatante an dem gerade im Bau befindlichen Freischwimmbad vorbei hinauf nach Bergerhausen marschierte; das Becken war nur in seinem tiefsten Bereich mit Wasser gefüllt, aber ein paar Wasserratten plantschten darin herum.

In dem hoch über Biberach liegenden kleinen Bauerndorf Bergerhausen wohnte eine Tochter von Rosas Mann Konrad.                                                            

Sophie hatte einen Bauern („Sponerbauer“) geheiratet, war Mutter von fünf Töchtern und war froh um jede Hilfe – vor allem während der Erntezeit.

Während Rosatante sich um die Kinder und den Haushalt kümmerte, fuhr ich mit dem Sponerbauer und seinem Knecht auf dem Traktor hinaus auf die Felder, um die zu wigwamartigen Gebilden aufgestellten Garben aufzuladen und in die Scheune zu verfrachten.

Da mir diese Arbeit von zuhause bekannt war, und ich mich demzufolge nicht „dabbich“ anstellte, konnte ich die anerkennenden Bemerkungen des Sponerbauern und seines Knechtes nicht ganz verstehen; gut taten sie trotzdem.

Der Lohn der Arbeit war abends dann ein deftiges Essen in der großen Stube.

Wenn wir dann Glück hatten, konnten "Rosatante" und ich auf der Ladepritsche des Milchautos hinunter in die Stadt fahren und sparten uns so den langen Rückweg.

An manchen Tagen war es auch so, dass ein oder zwei der Mädchen in die Martin-Lutherstraße 13 gebracht wurden und dort einige Tage von Rosatante versorgt wurden.

Ich kann mich erinnern, dass ich oft stundenlang mit Heidi und Elke in der Küche auf dem Boden rumrutschte.

Über viele Jahre erstreckten sich diese Besuche in Bergerhausen, aber relativ früh verstarb dann der "Sponerbauer"; ich kannte ihn nur als einen gebückt gehenden, von der jahrelangen schweren Arbeit gekennzeichneten Mann.

Sophie wurde weit über 80 Jahre alt.

Durch den Verkauf ihrer vielen Äcker waren sie sehr reich geworden; die wachsende Industrie („Liebherr“, „Boehringer Ingelheim“, etc.) und die damit sich vermehrende Bevölkerung verlangten nach Bauland für Wohnhäuser und Fabriken.

Mit meinem kleinen Campingbus kam ich in den vergangenen Jahren immer wieder mal nach Biberach und fuhr dann auch natürlich nach Bergerhausen hinauf. Das große Bauernhaus steht noch, die Scheune auf der anderen Straßenseite musste einem Neubau weichen. In ihm wohnt Sophies Tochter Elke mit ihrem Mann.

Wenn ich nicht gerade in Bergerhausen oder mit Elke und Heidi beschäftigt war, unternahm ich doch noch so einiges.

Zwei dieser Aktionen möchte ich noch kurz erwähnen.

                                                                            - Glück gehabt! -

Zum einen das Erlebnis an/in der Riß.

Es war Sommer und sehr heiß.

Da das erwähnte Freibad eine Abkühlung noch nicht zuließ, musste die Riß als Ersatz herhalten.

Dieses 8-10 m breite Flüsschen hatte man in Richtung Jordanbad aufgestaut und ermöglichte so den Biberacher Kindern und Jugendlichen das Vergnügen einer erfrischenden Abkühlung.

Also machte auch ich mich auf den Weg hinaus zu diesem erquickende Labsal versprechenden Örtchen, wo sich bereits Dutzende Kinder tummelten.

Ich zog mich um, verstaute meine Habseligkeiten unter dem kleinen Handtuch, das mir Rosatante mitgegeben hatte, und beobachtete dann eine Weile das Treiben an dem Flüsschen, vor allem an dem zu einer Art Sprungbrett umfunktionierten schmalen Brett, das etwa 2 m in den Fluss ragte.

Ich sah immer wieder Kinder, die kleiner waren als ich, und die mit dem Ausruf:“ Ich kann nicht schwimmen“ vom Brett in den Fluss sprangen.

Da auch ich nicht schwimmen konnte, dachte ich aber: “Was die können, kann ich auch“.

Als ich auf dem Brett stand und mich tastend vorwärtsbewegte, zwangen mich die ungeduldigen Rufe der Nachdrängenden zum Springen.

Ich tauchte ein, stand auch mit den Füßen auf dem Grund, der Kopf ragte aber nicht über das Wasser; es fehlten etwa 10 bis 20 cm.

Ich bekam panische Angst und stieß mich immer wieder vom Boden in die Höhe, um Luft zu schnappen.

Dieses mehrmalige und verzweifelte Gezappel mussten zwei Jungen bemerkt haben, denn sie sprangen ins Wasser und schleppten mich ans Ufer.

Sie brachten mich zu meinem Handtuch, beruhigten mich und blieben noch eine Weile bei mir.

Von der Riß aber hatte ich die Nase voll und trabte nach Hause.

Die nächsten Tage allerdings trieb mich die Angst vor einer damals akuten Polioerkrankung um.

Das zweite Erlebnis war angenehmerer Art.

                                                                                         - Bodensee - 

Früh morgens fuhr ich mit dem Zug über Ravensburg und Friedrichshafen nach Lindau, wo ich mir in der Altstadt und am Hafen bis zur Abfahrt des Linienschiffes nach Konstanz die Zeit vertrieb.

Faszinierend war dann die Fahrt mit dem Raddampfer, der durch die beiden seitlich angebrachten Räder vorwärtsgetrieben wurde.

Im Inneren konnte man die mächtigen Kurbelwellen arbeiten sehen.

Da mich Technik schon immer sehr interessiert hatte, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Über Wasserburg, Langenargen, Friedrichshafen, Immenstaad, Hagnau und Meersburg erreichten wir am frühen Nachmittag den Hafen von Konstanz; dort sah ich auch zum ersten Mal das Denkmal von Johannes Hus, der in Konstanz verraten und verbrannt wurde, eines der unzähligen Opfer der Nachfolger Christi.

Mit einem weiteren Schiff fuhr ich wieder hinüber nach Friedrichshafen, um dann am Abend wohlbehalten mit dem Zug in Biberach anzukommen.

Bis zu ihrem Tode im Jahre 1984 war ich viele Male Gast bei Rosatante, und auch

auf unserem Weg in den Urlaub nach Süden machte ich zusammen mit meiner Frau öfter Station in Biberach.

Auch wenn wir völlig überraschend auftauchten, empfing sie uns immer freundlich und gab uns das Gefühl, dass wir willkommen seien.

Sie war ein liebenswerter und herzensguter Mensch. 

-Dobel-

Es gab nichts, überhaupt nichts.

Niemand wurde über die Fahrtroute informiert, es wurden keine Zwischenstopps vereinbart, es gab weder Anweisungen für irgendwelche Notfälle noch Informationen zu erreichbaren Telefonnummern – es gab eben nichts; außer dem Ziel wusste keiner von uns irgendetwas Näheres.

Uns.

Das war eine Gruppe von fünfzehn 14-15-jährigen Buben, die unter der „Verantwortung“ des Sohnes unseres hiesigen Pfarrers mit den Fahrrädern nach Neusatz auf den Dobel fahren wollte, um dort vier Tage an einer Freizeit teilzunehmen.

Ich denke, es war im Mai/Juni 1954, als wir den Platz vor der Kirche verließen und Richtung Kürnbach radelten.

Der Leiter der Gruppe hatte kurz zuvor noch seinen Anorak auf meinem Gepäckträger befestigt.

Schon der Anstieg nach dem Ortsschild riss Lücken in die Gruppe, die steile Abfahrt nach Kürnbach hinunter sprengte sie vollends; zu viert standen wir plötzlich am Ortseingang in Kürnbach und wussten nicht mehr weiter.

Da eine Umkehr aus verschiedenen Gründen nicht in Frage kam, radelten wir nach Oberderdingen.

Die genaue Route, die wir von da aus nach Pforzheim genommen haben, weiß ich nicht mehr.

Ich vermute, wir sind über Großvillars, Knittlingen, Ölbronn, Kieselbronn nach Pforzheim gelangt.

Ich weiß nicht mehr, wie wir es schafften, den weiteren Weg zum Dobel rauszufinden und wie es uns gelang, auf der B294 an Birkenfeld vorbei in Richtung Neuenbürg zu radeln.

Es war schon dunkel, und der wieder einsetzende Regen hatte uns völlig durchnässt, als wir etwa 1 km vor Neuenbürg linker Hand einen Heuschuppen erblickten und nach kurzer Beratung beschlossen, in ihm die Nacht zu verbringen.

Eine Weiterfahrt war uns sinnlos erschienen; wir hatten keine Ahnung, wie weit unser Ziel noch entfernt war.

Wir zogen als erstes trockene Klamotten an und machten es uns auf dem Heu so bequem wie möglich.

Da es durch das Dach an einigen Stellen tropfte, dauerte es etwas, bis wir alle doch noch einigermaßen trockene Liegeplätze gefunden hatten. Ob wir in dieser Nacht viel geschlafen haben, weiß ich nicht mehr.

Ohne etwas zu essen, verließen wir bei Tagesanbruch den Schuppen und radelten an der Enz entlang nach Neuenbürg.

Zwischen Neuenbürg und Höfen verließen wir die B294, bogen nach rechts auf die L340 und mussten dann 6 km mühsam unsere Räder den steilen Anstieg nach Dobel hinaufschieben.

Gegen Mittag erreichten wir den „Neusatzturm“ und die um ihn herum gruppierten Zelte.

Die erste – höchst besorgte – Frage unseres „Gruppenleiters“ galt seinem Anorak.

Der war ihm wichtig; dass vier Kinder, für die er verantwortlich war, nahezu 12 Stunden verschollen waren, interessierte ihn nicht, diese Tatsache war ihm keine Frage wert.

Ein für mich heute noch inakzeptables und unverständliches Verhalten.

(NB! Er wurde später Pfarrer).

Im oberen Geschoss des „Neusatzturms“ hielten wir uns dann lange auf und warteten, bis unsere Kleider wieder getrocknet waren.

Die Nächte verbrachten wir auf dem klammen Stroh in den großen Zelten.

Vier Tage später waren wir wieder zuhause.

Wenn ich mich richtig erinnere, erreichten wir alle gleichzeitig unseren Heimatort.

Eines wundert mich noch heute: Dass unsere Eltern damals nichts unternommen haben: heute unvorstellbar.

- Geigenspiel -

Ich kann mir (eigentlich) nicht vorstellen, dass meine Mutter das alles geplant hatte; man müsste es sonst als genial bezeichnen.

Aber ich erinnere mich, dass sie immer wieder in entsprechenden Situationen wie nebenbei erwähnt und bemerkt hatte, wie gut es doch ihr Sohn mit Kindern verstünde und wie gut er mit ihnen umgehen könne.

Kann es sein, dass es auch zu ihrem "Plan" gehört hatte, als sie mir 1954 eine Geige bestellt hatte (viele Lehrer spielten damals noch Geige)?

Und wenn, wie hatte sie es geschafft?

Woher hatte sie den Katalog?

Sei`s drum.

Im Frühjahr stand eines Tages der Briefträger mit einem Paket vor dem Haus, ein Paket aus München.

Als wir es in der Küche auspackten, kam ein schwarzer, länglicher Kasten zum Vorschein, und schließlich lag eine braune Violine mit Bogen und einer kleinen, runden Dose auf dem Tisch; mit dem harzigen Knollen, den letztere enthielt, konnten wir nichts anfangen.

Wie ich damals reagiert habe, würde mich heute noch interessieren, aber ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran: war ich erstaunt? überrascht? verärgert? verblüfft? ratlos?

Möglicherweise war von all dem etwas dabei, ich weiß es einfach nicht mehr.

Nachdem einige Zeit vergangen war, nahm ich den Bogen in die Hand und drehte an dem Knopf: die gelblichen Haare spannten sich und wurden straff.

Als ich aber die Geige ans Kinn legte und mit dem Bogen darüberstrich, gab sie keinen Laut von sich, so lange ich es auch probierte.

Sicherlich enttäuscht, packte ich alles wieder ein.

Nachmittags probierte ich es nochmals: das Ergebnis war dasselbe.

Am nächsten Tag brachte sie das Paket zur Post und schickte es nach München zurück.

Damit war für mich die Geigenepisode beendet.

Umso überraschter war ich, als einige Wochen später wiederum der Briefträger mit dem bereits bekannten Paket vor der Tür stand.

Sie muss sich in der Zwischenzeit bei Emil Weegmann* erkundigt haben, was es mit dem harzartigen Brocken in der Dose auf sich hatte.

Als die Violine wieder spielbereit war, befahl sie mir, ein paarmal mit dem Bogen über den Harzbrocken zu streichen; ein weißlicher Staub wirbelte auf.

Als ich dann mit dem Bogen über die Geigensaiten strich, erklangen plötzlich schmerzliche Kratztöne, aber immerhin war etwas zu hören. Die Geige „funktionierte“ und blieb somit da.

Aber was nun?   

Sie hatte wieder einen Plan.

Ein paar Tage später eröffnete sie mir, dass sie mit Emil Weegmann gesprochen hätte, und er bereit wäre, mir Geigenstunden zu geben. Sie hätte mich bereits angemeldet.           

Kurzum:

Die nächsten zwei Jahre wanderte ich zweimal die Woche zur Luisenstraße, und Emil brachte mir Grundlegendes im Violinenspiel bei. 

Eine Mark und fünfzig drückte sie mir für die Stunde immer in die Hand

Nach zwei Jahren meinte Emil eines Tages, dass er mir nichts mehr beibringen könne und den Unterricht somit beenden wolle.     

Ich war schon etwas überrascht, rechne ihm aber heute noch seine Ehrlichkeit hoch an.

Ich vermute, er hatte sich die Grundbegriffe selber beigebracht, das war`s dann aber. Ihn selber spielen habe ich nie gehört; sicherlich brauchte er auch das Geld.

*Emil Weegmann wohnte ein paar Häuser von uns entfernt in der Luisenstraße.

Er war ein kleiner, korpulenter Mann von etwa 30 Jahren mit den dicksten Brillengläsern, die ich damals gesehen hatte.

Ich kann mich erinnern, dass er während der Zeit, als gegenüber bei Fischers amerikanische Soldaten einquartiert waren, manchmal abends und in der Nacht ihre Festivitäten - man könnte auch sagen: Saufereien, etc. - mit Klaviermusik umrahmte.

Er muss meiner Mutter erzählt haben, welche Bewandtnis es sich mit der Dose hatte, dass es sich um Kolophonium handelte, ohne das die Bogenhaare zu glatt wären, um einen Ton zu erzeugen.

Ich bin ihm trotzdem heute noch sehr dankbar; er war ein guter, gütiger, hilfsbereiter Mensch, der ein paar Jahre später starb.   

 

Wie ging es weiter mit meinen Geigenkünsten?

An meiner Schule (Progymnasium Eppingen) hatte unser Musiklehrer Keiler ein kleines Streichorchester gegründet.

Hauptsächlich waren Erwachsene die Akteure, aber auch ein paar Schüler unserer Schule wirkten mit.

Neben Else Zorn und Beate Dörr durfte auch ich mitfiedeln, allerdings reichte es nur zur „Zweiten Geige“.

Die Proben zu den Konzerten waren immer an den Samstagabenden, und ich hatte oft Mühe, den letzten Zug um 22.30 Uhr noch zu erreichen.

Es war trotzdem eine lehrreiche Lernphase.

1956 war meine Zeit am Progymnasium Eppingen zu Ende (dieses führte nur bis zur Mittleren Reife; zum Abitur musste man nach Bretten oder Sinsheim).

Ich entschied mich für Bretten, aber am dortigen Melanchthon-Gymnasium gab es kein Orchester.

Irgendwie gefiel mir aber das Rumfiedeln, so dass ich zuhause oft stundenlang die Saiten malträtierte,  ohne eine Vorlage, nur intuitiv. Etüden und lange Übungspassagen hasste ich.

Erst 1961 kümmerte sich an der Pädagogischen Hochschule wieder jemand um mein Geigenspiel.

Frau Helmer erreichte mit ihrer Gründlich- und Zähigkeit in zwei Jahren doch noch einiges, beklagte aber immer wieder meine Übungsunlust.

Ein kleiner Lohn meiner Mühen (und der Strategie meiner Mutter?) war das "Sehr gut" meiner Prüfungslehrprobe in einer 1.Klasse 1963, zu dem der Einsatz meiner Geige nicht unerheblich beitrug.

Die nächsten Jahrzehnte habe ich die Geige im Unterricht ("Was? Sie spielen Geige? Na, dann unterrichten Sie natürlich Musik!") als sehr hilfreich kennengelernt und immer verwendet.

Ich kann nur hoffen, dass die Zahl der Kinder, die mein Gegeige nicht als unzumutbar empfanden, doch etwas größer ist als die Gegenpartei; damit wäre ich schon zufrieden.

Bogen und Geige hängen heute noch an der Wand meiner Bude; die Saiten fehlen allerdings.

Ab und zu erwäge ich, das "gute Stück" wieder zu restaurieren bzw. mir eine neue zuzulegen.

Vielleicht geschieht es noch. 

Kleine Anmerkung:

1956 stellte mir die Feuerwehrkapelle eine Trompete zur Verfügung, in deren „Gebrauch“ ich vom damaligen Dirigenten Josef Rothmaier eingewiesen wurde.

Acht Jahre musizierte ich in dieser Gruppe, marschierte bei Festzügen mit durch die Dörfer und half als „Zweiter Trompeter“ bei der Darbietung von Konzerten (u.a. „Schwarzwaldmädel“) und bei vielen anderen Aufführungen; bedingt durch die Heimat unseres Dirigenten, überwog Musik aus dem Böhmerwald.

Noch heute habe ich beste Erinnerungen an die Kameradschaft dieser Gruppe.

- Nase -

Heute werde ich nur noch beim Blick in den Spiegel morgens daran erinnert; sie ist aber völlig bedeutungslos, sie spielt keine Rolle mehr: meine Nase.

Sie dürfte für meine Gegenüber in ihrer knollenhaften, rotgefärbten und überdimensionierten Gestalt immer noch kein schöner Anblick sein, wird aber entweder ignoriert, sanktioniert und als einfach mal gegeben betrachtet; sie gehört eben zu ihm.

Es war ein langer Weg bis hierhin, und man wird sich bestimmt auch wundern, warum hier meinem simplen Riechorgan so viel Raum gewidmet wird.

Ich habe die Vermutung, dass die nachfolgenden Ausführungen auch in einem größeren Komplex gesehen werden könnten und darunter speziell wiederum unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik.

Ich ertappe mich heute immer noch sehr oft - nahezu immer - wie ich z.B. bei einem Stadtbummel mir entgegenkommende Menschen blitzschnell nach bestimmten Kriterien in ihrem Antlitz absuche und sie automatisch dann in - qualitativ abgestufte - verschiedene Kategorien einsortiere. Ein schöner Mensch war und ist für mich etwas Besonderes.

Von wem und wann diese Vorstellungen eines schönen Menschen beeinflusst und geprägt wurden, weiß ich nicht; gewiss nicht durch irgendwelche Medien.

Interessant war auch die Erkenntnis für mich, dass diese Idealform eines schönen Gesichts nicht an einen bestimmten Typus gebunden ist.

Ich kann darin in jeder Variante fündig werden:

in jeder Haar-bzw. Augenfarbe, ob ovale oder mehr breite Gesichtsform, spielt keine Rolle.

Ich denke, es sind die Ebenmäßigkeit und die Harmonie eines Gesichts, die ich suche und die mich im positiven Fall für den Menschen einnehmen, und hier erhebt sich für mich die große Frage, die ich mir immer wieder stelle:

Kann dieses manische Qualifizierungsbestreben von Menschen bei negativem Ausgang auch eine mindere menschliche Einstufung des Betreffenden nach sich ziehen? Kann es - vor allem bei meinem Beruf - eine verminderte und nicht mehr objektive Leistungsbewertung zur Folge haben?

Vor allem letzteres wäre fatal, furchtbar und unerträglich.

Nach vielen unzähligen Stunden des Grübelns in den letzten 15 Jahren denke ich folgendermaßen darüber:

Es ist nicht auszuschließen und wahrscheinlich sogar sicher, dass ich Menschen anders - freundlicher, nachsichtiger, toleranter, sympathischer - begegnet bin und sie auch anders behandelt habe, wenn sie ganz oder annähernd dem von mir gesuchten Raster entsprochen haben.

Ich bedauere diese Tatsache, kann sie aber leider nicht mehr korrigieren (ein wenig Trost finde ich im Ergebnis eines Vergleichs mit Kolleginnen, Kollegen und vielen anderen Menschen).

Zur zweiten Frage:

Ich schließe es aus, dass ich für irgendein Kind bewusst und absichtlich aufgrund seines Aussehens oder Verhaltens eine falsche Leistungsbeurteilung abgegeben habe.

Ich habe in Gedanken viele meiner "schwarzen Schafe" auf dieses Kriterium hin überprüft; gefunden habe ich nichts.

Natürlich bewegt sich das Ganze in einer mehr oder minder breiten Grauzone, und es ist nicht auszuschließen, dass im Grenzfall einer anstehenden Leistungsbeurteilung (z.B. bei einem Aufsatz) unter Umständen nicht ganz adäquate Noten vergeben wurden.

Ob solche Dinge überhaupt zu vermeiden sind, weiß ich nicht. Ich würde es sehr bedauern, wenn dem so gewesen wäre.

Sie haben mich sehr lange beschäftigt.

Nach diesem Abstecher wieder zurück zu meiner Nase.

Es klingt sicher etwas unglaubwürdig und suspekt, aber ich bin mir sicher, dass nichts oder nur wenig mein Leben so beeinflusst hat wie meine Nase.

Es muss im Alter von 10 Jahren gewesen sein, also 1950.

Wir - die "Bäreninselbande" - waren damals wie auch in den darauffolgenden Jahren ständig auf der Straße, spielten Fußball, Völkerball, "Treiberles", Verstecken oder mit unseren Murmeln.

Dazwischen machten wir auch "Bockspringen":

Einer von uns bückte sich, der andere grätschte über ihn drüber, stellte sich vorne wieder hin, der andere grätschte wieder drüber, usw.

Normalerweise ein harmloses, ungefährliches Spiel, ja, wenn nicht einer von den "Springern" - es war Wolfgang A. - nicht zu kurz gesprungen und auf meinem Genick gelandet wäre und mein Gesicht in den damals aus Schotter, Kieselsteinen und Sand bestehenden Untergrund der oberen Luisenstraße gequetscht hätte.

Ich weiß noch, dass ich einen starken Schmerz verspürte, gepaart mit Schrecken und einem nicht gelinden Schock.

Ich lief nach Hause, meine Mutter reinigte das blutverschmierte Gesicht und verklebte die Risse und Kratzer.

Zwei Wochen später war davon nichts mehr zu sehen, und der Vorfall war vergessen.

Es muss 1-2 Jahre später gewesen sein, als mir bei Sonnenschein auffiel, dass der Schatten auf meiner linken Wange länger war als auf meiner rechten.

Wahrscheinlich schob ich diese Feststellung immer wieder beiseite, musste mich aber doch irgendwann aufgerafft habe, mich bewusst im Spiegel anzusehen (sicherlich kam/kommt dies in diesem Alter nicht so häufig vor).

Dann sah ich sie:

Sie hatte in der Mitte einen Knick nach links und einen nicht klein dimensionierten Buckel; also hatte ich eine Hakennase.

Diese Erkenntnis traf mich wie ein Hammer und ließ mich fortan nicht mehr los.*

Irgendwann sprach ich meine Mutter darauf an, aber - wie es ihre Art war - schob sie zunächst auch dieses Problem zur Seite; das "Büble" wird es schon wieder vergessen.

Es vergaß es aber nicht und ließ ihr keine Ruhe, so dass sie sich eines Tages gezwungen sah, mit mir zum Kähny in den "Ochsen" zu gehen und ihm - unserem Dorfarzt - meine Nase zu zeigen.

Er betrachtete und befühlte sie kurz und meinte dann sinngemäß, dass sie meine anderweitig vorhandene "Schönheit" nicht beeinträchtige; ich soll mir keine Sorgen machen.

Die Nase sei medizinisch in Ordnung; dass sie ein wenig windschief und mit einem Höcker im Gesicht steht, muss man so hinnehmen und damit leben.

Damit war die Sache für ihn und meine Mutter erledigt.

Aber gerade damit kam ich nicht mehr zurecht.

Es wurde immer schlimmer.

Ich beobachtete jede und jeden, die/der mich anschaute und versuchte aus den Gesichtern irgendwelche Reaktionen zu erkennen; logischerweise überwogen die negativen Hinweise auf diesen Schandfleck in meinem Gesicht.

Meine Nase war der dominierende Faktor in meinem Leben geworden.

Ihr abseits aller Normalität sich befindendes Aussehen reduzierte mein bis dahin doch relativ unbefangenes und offenes Auftreten und Verhalten anderen Menschen gegenüber.

Ganz schlimm wurde es, als ich altersmäßig in den Bereich kam, wo man plötzlich weiß, warum "im Schrank nicht nur Hosen" hängen.

Ich vermied immer mehr Begegnungen und Kontakte.

So kniff ich oft nur Minuten vor vereinbarten Treffen, weil mich einfach die Angst vor der Reaktion der - in der Regel femininen - potentiellen Kontaktpersonen vor der Begegnung abhielt.

Wenn sie doch nicht zu vermeiden waren, fummelte ich mir während der Gespräche im Gesicht herum oder drehte meinen Gegenübern die linke Gesichtshälfte zu, weil ich im Spiegel festgestellt hatte, dass in dieser Position der Knick und die Schiefstellung der Nase nicht ganz so ausgeprägt zu sehen waren (eine Mitschülerin - Mathilde Paa aus Gemmingen - wies mich 1956 mehrmals auf dieses Verhalten hin und fragte nach dem Grund; eine Antwort blieb ich ihr schuldig). Nahezu alle Bilder, die es ab 1955 von mir gibt, sind so aufgenommen, dass hauptsächlich die linke Gesichtshälfte sichtbar ist.

Ab 1958 muss diese für meine Integration in Gruppen doch negative Fixierung auf einen Körperteil für mich doch etwas in den Hintergrund getreten sein bzw. ihre beherrschende Bedeutung verloren haben, denn ich hatte in der Schule, im privaten und sportlichen Bereich eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Kontakten (nicht zuletzt haben bei meiner Frau anscheinend mein blaues Hemd und meine blauen Augen den Anblick der Knollennase übertrumpft).

Ich muss also doch "gelernt" haben, mit diesem Manko im Gesicht etwas toleranter umzugehen; möglicherweise haben auch andere - "positivere" - Faktoren überwogen.

Erstaunlich ist aber für mich heute trotzdem noch die Tatsache, dass ich es mir zutraute, mit diesem nicht zu übersehenden Schönheitsmakel nahezu 40 Jahre lang vor 60 bis 80 - oft kritischen - Augen zu agieren.

Ich denke und vermute, dass ich im Alltag und vor den Klassen im Laufe der Zeit einfach "vergaß", dass da ein solches Monstrum in meinem Gesicht thronte.

1972 machten gesundheitliche Probleme einen Eingriff an der Nase notwendig.

In diesem Zusammenhang wollte man dann auch die Schiefstellung und den Höcker beseitigen.

Beides gelang in Heilbronn nur unbefriedigend; die gesundheitlichen Probleme habe ich heute noch.

Es ist müßig und absolut spekulativ, heute - nach 65 Jahren - darüber zu sinnieren, was wäre wenn gewesen.

Sicher weiß ich aber, dass mir meine Nase - in wichtigen Phasen meines Lebens - viele Sorgen und Ängste bereitet hat und so manche Kontakte blockiert bzw. negativ beeinflusst hat.

Aber: was wäre wenn gewesen?!

*=Es ist mir heute noch absolut unverständlich, dass meine Umgebung (Eltern, Geschwister, Freunde) diese doch nicht zu übersehende Veränderung eines "herausragenden" Körperteils nicht bemerkt - kann nicht sein! - oder einfach ignoriert haben; irgendeiner hätte mich doch darauf ansprechen, mich darauf aufmerksam machen oder darauf hinweisen müssen - nichts von alldem war geschehen. Warum?

- Autos und Motorräder -

Ernst H. kam 1949 aus russischer Gefangenschaft zurück: krank, kraftlos, enttäuscht, labil und müde. Ob er zu diesem Zeitpunkt bereits Alkoholiker war oder erst später dieser Sucht verfiel, weiß ich nicht mehr.

Nach einem Jahr unternahm er den Versuch, in seinem gelernten Beruf als Kraftfahrzeugmechaniker wieder zu arbeiten.

In einer großen Garage konnte er sich einrichten.

Woher er die Geräte und Werkzeuge bekommen hatte, weiß ich nicht, aber als ich zufällig zum ersten Mal in die Garage kam, war da schon allerhand vorhanden - nur kein Auto, das es zu reparieren galt.

Als wir Wochen später wiederum dort oben rumtobten - beliebt waren im Herbst "Äpfelschlachten" und im Frühjahr "Maikäfer jagen" - sah ich in der offenen Garage ein Auto stehen; es war die "Isabella" (Borgward) von Herrn Jacobi, der mit Lotte Friedrich verheiratet war und für die gleichnamige Schreinerei Möbel verkaufte.

Als ich etwas unschlüssig am Eingang rumtrödelte, kam ein Mann aus einem neben der Garage stehenden Wohnhaus und meinte, ich könne gerne hineingehen, wenn ich Lust dazu hätte.

Ich folgte dieser Einladung, und so fing es an.

Die nächsten drei Jahre verbrachte ich nahezu jede freie Minute in der Garage; die Basis für meine Technikbegeisterung war da; diese Welt interessierte mich.

Sporadisch kamen auch andere unserer Gruppe in die Garage und halfen.

Waren es zunächst reine Handlangerdienste - ich kannte bald alle Schrauben und die dazu passenden Schraubenschlüssel und hatte sie bereits vor seiner Aufforderung zur Übergabe in der Hand - waren es später auch anspruchsvollere Arbeiten, die ich übernehmen durfte:

Das Wechseln des Wassers der Scheibenwischeranlage, Öl nachfüllen, Zündkerzen ausbauen und mit der Stahlbürste abschrubben, Reifenluftdruck überprüfen, Schmiernippel versorgen und manch anderes.

Als zwei Jahre später seine Alkoholkrankheit immer sichtbarer wurde, und er manchmal überhaupt nicht in die Garage kam, übernahmen wir auch andere Arbeiten, bei denen wir ihm oft zugeschaut hatte: Vergaser einstellen, Leerlaufdrehzahl regulieren oder Batterien aufladen.

Technisch am Anspruchsvollsten war es, wenn ein Auto neue Zylinderkopfdichtungen brauchte.

Da sie manchmal nicht zu beschaffen waren, mussten sie aus Löschpapier hergestellt werden.

Es wurde eine Schablone aus Zeitungspapier oder dünnem Karton angefertigt, zwei bis drei Lagen Löschpapier darübergelegt und dann mit einer Rasierklinge die Form ausgeschnitten.

Diese Arbeit musste oft mehrmals im Jahr durchgeführt werden.

Da es damals (1950/1952) nur einige Autos in Sulzfeld gab (wir betreuten vor allem die Autos vom Schreinerweiß, der Firma Fischer, vom Kappenernst, die "Isabella" vom Jacobi und den "Adler" von Burgahns), kamen meistens Motorräder in die Werkstatt (BMW R25-R51 und R67, NSU - Fox, Konsul, Quick, Horex - Regina, Zündapp - DB 202).

Natürlich mussten diese Fahrzeuge alle bewegt werden, und so war es kein Wunder, dass wir nahezu alle mit 12/13 Jahren ein Auto in die Garage rein-oder rausfahren konnten; mit den Motorrädern fuhren wir auch die Luisenstraße runter und über die Friedrichstraße und die Wilhelmstraße wieder zurück (mit einer Zündapp fuhren wir einmal über die Feldwege zum Hägenich und über Zaisenhausen zurück).

Ernst ignorierte unser Tun.

Gegen Ende des Jahres 1953 kam er nicht oft mehr in die Werkstatt; im selben Maße blieben auch die Kunden weg.

Das Ende unserer Zusammenarbeit mit ihm hätte tragisch ausgehen können.

Im Sommer 1954 veranstaltete der Fußballverein das erste große "Sportfest" nach dem Krieg. Zwei Tage wurde rund um die Uhr Fußball gespielt, und wir waren nahezu ständig dabei.

Am späten Sonntagnachmittag hielten wir uns hinter dem Tor nahe der Neuhöferstraße auf, als Ernst laut hupend mit dem Opel P4 vom Schreinerweiß angefahren kam und uns wild gestikulierend aufforderte, in das Auto zu steigen. Er wollte mit uns eine Spritztour machen.

Widerwillig und ängstlich stiegen letztendlich fünf von uns ins Auto.

Außer mir waren das noch Werner Himmel (er saß auf dem Beifahrersitz), Gerhard Fundis, Erwin Haas und Wolfgang Antritter.

Nach einem Aufsehen erregenden Wendemanöver - er war betrunken - fuhr er mit uns unter Einbeziehung der gesamten Straße über die "Wegling" nach Zaisenhausen, wo er in der Ortsmitte wendete und dann anhielt.

Er stieg aus und befahl Werner, auf den Fahrersitz hinüber zu rutschen, denn er sollte jetzt das Auto zurück nach Sulzfeld steuern.

Alle seine Einwände und Beteuerungen, dass er das nicht könne, nützten nichts.

In seinem Suff war Ernst keinen Argumenten mehr zugänglich.

Nachdem er den Motor zwei-oder dreimal abgewürgt hatte, fuhr Werner langsam durch die Hauptstraße von Zaisenhausen in Richtung Sulzfeld.

Damals floss der Kohlbach etwa 200 m nach dem Ortsausgang von Zaisenhausen noch ziemlich dicht an der schmalen "Wegling" vorbei, und es kam, wie es kommen musste.

Plötzlich griff Ernst in das Lenkrad, Werner verlor die Kontrolle über den P4 und fuhr einen kleinen Abhang hinunter. Im Kohlbach blieb das Auto stecken.

Ich weiß noch, dass durch den Aufprall die rechte Tür aufsprang, Ernst vom Beifahrersitz hinausgeschleudert wurde und plötzlich im Wasser lag.

Wir kletterten aus dem Fond hinaus, über ihn hinweg und durch das Wasser des Kohlbachs hinauf auf die Wiese.

Ernst bewegte sich nicht, Werner hing über dem Lenkrad und weinte.

Wir zogen dann Ernst auf die Wiese und halfen Werner aus dem Auto, das bis zu den Sitzen mit Wasser gefüllt war.

Inzwischen waren ein paar Spaziergänger eingetroffen, die sich vor allem um Werner kümmerten, der starke Schmerzen auf der Brust hatte. Die drei Speichen des Lenkrads und der Hupknopf waren deutlich auf ihr abgebildet.

Irgendjemand musste Herrmann Fischer benachrichtigt haben, denn eine Stunde später kam er mit dem "Henschel" der "Lumpenzwick", zog den P4 aus dem Wasser und schleppte ihn nach Sulzfeld.

Ich weiß es nicht mehr so genau, aber ich denke, das war unser letzter Kontakt zu Ernst.

Ich kann mich auch nicht mehr daran erinnern, wie dieser unglückliche Zwischenfall letztendlich ausging und wer für die Folgen aufkam.

Man kann annehmen, dass Ernst H. ohne den Alkohol in Sulzfeld seinen Weg gemacht hätte, denn seine handwerklichen Fähigkeiten waren unbestritten, und der Autoboom stand vor der Tür; sicher waren seine Kriegserinnerungen so belastend, sodass er die Flucht in den Alkohol als einzigen Ausweg gesehen hatte.

Ich habe ihm einiges zu verdanken, denn er hatte mir die Augen für die Welt der Technik geöffnet, und er war auch dafür verantwortlich, dass Automechaniker lange Zeit noch mein Traumberuf geblieben war.

Ernst wurde nicht alt.

Es muss bereits Anfang der 60er-Jahre gewesen sein, als er tödlich verunglückte.

 Mopeds und anderes……

1954 tauchten sie auf: die Kreidlers, Zündapps, Puchs und vor allem die Quicklys, alle der Gattung „Moped“ zuzurechnen, und ein Jahr später fuhren bereits einige meiner Kumpel mit diesen motorisierten „Fahrrädern“ durchs Dorf - von vielen beneidet, vor allem von mir.

Ein Technikfreak wie ich - und trotzdem nur mit dem Fahrrad unterwegs.

Aber es war nichts zu machen. Zwei Hindernisse waren nicht zu überwinden: Finanzen und Alter.

Obwohl zweites immer noch nicht passte, hatte ich im Frühjahr 1956 endlich meine Mutter so weit, dass sie einwilligte, mir ein solches Vehikel zu kaufen.

Es wurde beim „Brunnen-Krüger“ bestellt, kostete 550 Mark, war drei Wochen später da und war ein grünes Quickly, das mit dem großen Tank.                                           

Dieses doch simple Gerät mit seinen zwei Gängen, dem kleinen Zweitaktzylinder (49 Kubikzentimeter), den 1,4 PS und seinen 40 km/h Höchstgeschwindigkeit erschloss mir eine ganz neue Welt, denn zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mich ohne Einsatz meiner eigenen Muskelkraft vorwärtsbewegen; ich brauchte nur mit der rechten Hand einen Griff leicht nach hinten zu drehen, und schon sauste ich davon.

Ich weiß noch, dass ich sofort nach Kürnbach fuhr, am Sportplatz umdrehte und riesig gespannt war, ob es tatsächlich den steilen „Kürnbacher Buckel“ hinaufschaffen würde; aber siehe da, nach Runterschalten in den ersten Gang schnurrte das Fahrzeugchen klaglos den Berg hinauf.

Eines der zwei Probleme war aber immer noch da: mein Alter.

Mir - und zwei meiner Freunde - fehlten noch etwa 6 bis 8 Monate bis zum 16.Geburtstag, denn erst ab diesem Alter war man berechtigt - nach einer einfachen Eignungsprüfung - sich mit diesen Kleinkrafträdern im Verkehr zu bewegen.

Es war natürlich klar, dass wir uns an dieses Limit nicht hielten.

Die Dinger mussten bewegt werden, schon um ihrer selbst willen; wer rastet, der rostet.

Also strebten mit beginnender Dämmerung vier dieser flinken Gesellen auf getrennten Wegen zu einem vereinbarten Treffpunkt, um dann gemeinsam eine kleine Rundfahrt zu starten; die Runde über Mühlbach, Ochsenburg, durch den Wald nach Kürnbach und nach Hause zurück war ihr Favorit.

Aber auch andere Dörfer und Ziel waren nicht vor ihnen sicher.

Abends oder nachts war das Risiko einer Kontrolle nahezu null, und tagsüber fuhren wir nur los, wenn wir wussten, dass „Sheriff“ Weber sich in seinem Büro in der Friedrichstraße aufhielt.

Soweit ich mich erinnern kann, wurden wir nie kontrolliert.

Als der Tag der „Volljährigkeit“ dann endlich gekommen war, erweiterten wir unseren Aktionsradius doch beträchtlich, und eines Tages tauchte irgendwie der Vorschlag auf, doch mal etwas „Größeres“ zu unternehmen.

Wir spekulierten anfangs, lästerten, machten unsere Witze und hielten es in keiner Weise für ein ernst gemeintes Unterfangen, bis ich mich dann doch der Sache annahm.

Klar: alle anderen waren täglich acht Stunden an ihren Arbeitsplätzen, ich saß nur in der Schule rum - und das auch nur vormittags.

Also „plante“ ich.

Mein Vorschlag wurde gut aufgenommen, und so begannen wir mit den Vorbereitungen, denn allerhand musste noch angeschafft werden: Gepäcktaschen und vor allem Regenklamotten.

Nach vielen „Sitzungen“ im „Engel“ war es dann im August 1957 so weit.

Zusammen mit Friedolin und Willi startete ich an einem sonnigen Samstag zu unserer Fahrt durch den Schwarzwald.

Über Mühlacker und Pforzheim erreichten wir am späten Nachmittag Birkenfeld, wo wir auf einem Wiesenstück von Willis Onkel übernachten konnten.

Durch den für mich damals von einer 

großen Magie verklärten Schwarzwald

verklärten Schwarzwald ging es am nächsten Tag weiter, und über Freudenstadt, Alpirsbach, Hornberg und Triberg erreichten wir am späten Abend Furtwangen, wo wir auf einer Waldlichtung unser Zelt aufschlugen, uns auf unserem Gaskocher eine schmackhafte Suppe zubereiteten und dann müde in unsere Schlafsäcke krochen.

Nach einem längeren Stopp am Titisee - inklusive Bootsfahrt und Eisessen - ging es am nächsten Tag über Lenzkirch, Bonndorf nach Tengen, wo wir wiederum in der Nähe eines Waldes übernachteten.

Am Nachmittag des nächsten Tages erreichten wir Friedrichshafen.

Nach einer kurzen Hafenrundfahrt mit einem Tretboot suchten wir uns in Seenähe einen Übernachtungsplatz.

Nachdem das Zelt stand, marschierten wir zu einem Gasthaus und ließen uns zum ersten Mal nach unserer Abfahrt wieder ein warmes Essen schmecken.

Am nächsten Tag trennten wir uns.

Warum?

Ich litt schon damals unter massiven Rückenschmerzen; ohne mehrmaliges Einreiben ging es nicht, und abends stank es in dem kleinen Zelt bestialisch.

Keiner hatte sich bisher beschwert, aber ich hatte den Eindruck, dass sie abends alles taten, um den Aufenthalt im Zelt so weit wie möglich zu verkürzen.

Auch war es für drei Personen viel zu klein; unser Geiz hatte uns eingeholt.

Yul und Willi waren nicht glücklich, als ich sie informierte, nach Hause zu fahren, mir selber kam es auch wie eine „Fahnenflucht“ vor.

Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von ihnen und fuhr über Ravensburg nach Biberach zu meiner Tante Rosa.

Ich verbrachte bei ihr zwei Tage und erreichte dann am dritten Tag abends - über Ehingen, Filderstadt und Pforzheim - mein Zuhause.

Erstaunlich, welche Entfernungen man mit einem solch kleinen Vehikel an einem Tag zurücklegen kann.

Fazit:

Die Fahrt durch den Schwarzwald war für mich faszinierend und bestätigte die mannigfaltigen Bilder und Vorstellungen, die durch viele Geschichten, Märchen und Legenden vorbereitet wurden.

Viele Fahrten in den vergangenen Jahrzehnten in dieses eigenwillige Mittelgebirge verringerten mein Interesse und meine Begeisterung nicht im Geringsten.

 

Garmisch-Partenkirchen

Wie bereits geschildert, war mein Vater nach dem Krieg bei der „Eisenbahn“ beschäftigt.

Alle Angehörigen dieser Institution bekamen sog. Freischeine, auch die einzelnen Familienmitglieder.

Daneben gab es auch die „Pfennigkarte“: mit ihr bezahlte man für jeden Kilometer ca. 1 Pfennig.

Während den Beschäftigen der „Eisenbahn“ fünf Freischeine pro Jahr zustanden, gab es für ihre Frauen und Kinder jeweils nur drei davon.

Natürlich verbrauchten wir sie alle; zum Jahresende auch manchmal für eine Fahrt nach Heilbronn oder Karlsruhe, nur um sie nicht verfallen zu lassen.

Die meisten davon gingen für Fahrten nach Biberach drauf.

Später (1956 bis 1958) dienten sie mir dazu, um Spiele der Deutschen Fußballnationalmannschaft zu besuchen, jedes Mal ein begeisterndes Erlebnis.

Zusammen mit meinem Schulkameraden Herbert („Herle“) Kritter, dessen Vater ebenfalls bei der „Eisenbahn“ beschäftigt war, besuchte ich am 22.12.1957 das Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn im Niedersachsenstadion in Hannover; es galt als „Rückspiel“ des WM-Finales in Bern 1954 (Endstand: 1:0).

Jeweils 9 Stunden dauerte die Hin-und Rückfahrt, bei der wir teilweise nur auf dem Boden sitzen konnten, aber es faszinierte uns, Spieler wie Grosics, Bozsik, Hidekuti, Kocsis, Eckel, Juskowiak, Szymaniak, Herkenrath und Schäfer spielen zu sehen; Sepp Herberger saß auf der Trainerbank.

Am 19.3.1958 waren wir im Frankfurter Waldstadion und sahen den 2:0-Sieg der Deutschen gegen Spanien (Alfredo Di Stefano, Paco Gento und Luis Suarez waren die bekanntesten Spieler), und am 21.12.1958 fuhren wir ins Rosenaustadion nach Augsburg, wo Bulgarien 3:0 verlor.

Ich weiß es nicht mehr ganz genau, aber der Auslöser muss eine der damals beginnenden - oft heftigen – Diskussionen mit meiner Mutter gewesen sein; auf jeden Fall füllte ich kurz entschlossen einen Freischein aus, packte ein paar Klamotten in meinen Sportsack, stiefelte am nächsten Morgen zum Bahnhof runter und fuhr mit dem Dampfzug zunächst nach Heilbronn, von wo es dann über Stuttgart und Ulm nach München ging, das ich am späten Nachmittag erreichte.

Die letzte Etappe führte dann von der bayrischen Hauptstadt über Murnau zu meinem Endziel nach Garmisch-Partenkirchen. Wie bei den Dampfzügen damals üblich, konnte man von einem Waggon zum nächsten wechseln, musste aber eine sich im Freien befindliche Metallplatte überqueren, was bei dem Geschaukel nicht immer einfach war.

 Da es ein wunderschöner Tag war, hielt ich mich auf der hinteren Plattform des letzten Wagens auf und erblickte plötzlich etwas noch nie Gesehenes und für mich Unfassbares in der Ferne: bis in den Himmel emporsteigende Felsmassive, manche mit Schnee überzogen und in der Sonne glänzend.

Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und das Erste, was ich nach dem Aussteigen in Garmisch tat, war, mich einfach hinzustellen und diese noch nie gesehene „Welt“ anzuschauen (dasselbe war passiert, als ich 1950 mit der „Hafenbahn" vom Friedrichshafener Hauptbahnhof zum Hafen hinausfuhr und plötzlich vor der riesigen Fläche des Bodensees stand).

Anschließend begab ich mich in die „Eisenbahnerkantine“ in der Nähe des Hauptbahnhofs, wo ich mir mit meiner „Pfennigkarte“, die auch als Ausweis diente, etwas zu essen kaufte.

Wie ich dann nach einem Besuch auf dem Fremdenverkehrsamt feststellen musste, konnte ich mir ein Zimmer in dieser Gegend nicht leisten.

Warum ich dann in den Bus nach Farchant einstieg, weiß ich nicht mehr, fand aber dort bald darauf ein Zimmer in einem kleinen Haus. Kostenpunkt: 2 DM pro Nacht.

Ich kann mich nur noch an den kleinen Tisch erinnern, auf dem eine große Porzellanschüssel und ein mit Wasser gefüllter Krug standen.

Am nächsten Morgen nahm ich den Bus zum Bahnhof und besorgte mir einige Prospekte.

Ich beschloss, durch das Höllental zur Höllentalangerhütte hinaufzuwandern.

Mit dem Bus ging es zunächst nach Hammersbach und von da ab zu Fuß steil hinauf zur Höllentaleingangshütte, wo ich den Eintritt bezahlte und mir einen Regenumhang auslieh.

Der Gang durch diese fantastische Schlucht (ich bin sie Jahre später noch mehrmals gegangen, auch mit Klassen) war grandios; ich hatte so etwas noch nie gesehen und kam aus dem Staunen nicht heraus.

Nach etwa einer Stunde erreichte ich – immer am tosenden Wasser des Hammersbachs entlang – die Höllentalangerhütte, wo ich eine lange Rast einlegte und von der Terrasse aus den damals noch weit ins Tal herunterreichenden Gletscher („Höllentalferner“) bestaunte.

Auf dem Rückweg sah ich einen nach rechts weisenden Wegweiser mit der Aufschrift „Kreuzeck - 3 Std.“

Da es erst kurz nach 12 Uhr war, dachte ich, diesen Abstecher eigentlich noch „mitnehmen“ zu können und begann den Anstieg über den schmalen, steil aufwärts führenden Pfad.

Nach zwei Stunden war ich schweißnass, hatte noch niemanden und nichts gesehen, vor allem kein „Kreuzeck“; ich war mitten in einem ausgedehnten Latschenfeld.

Ich weiß nicht mehr genau, was dann passierte, aber plötzlich rannte ich panikartig durch diese harten Gewächse und war nach kurzer Zeit an allen unbedeckten Stellen des Körpers ziemlich verkratzt und aufgeschürft.

Wahrscheinlich hatte ich auch geschrien, denn plötzlich hörte ich jemanden rufen, und kurz darauf kam mir ein Ehepaar etwas oberhalb auf einem Pfad entgegen.

Der Mann beruhigte mich, und wir gingen dann alle zusammen wieder zurück zur Höllentalangerhütte, von wo ich nach kurzer Pause meinen Weg durch das Höllental hinunter nach Hammersbach allein fortsetzte.

Da mein Geld für Fahrten zum Kreuzeck oder mit der Bayrischen Zugspitzbahn hinauf auf Deutschlands höchsten Berg nicht ausreichte, trieb ich mich noch zwei Tage in Garmisch, in Partenkirchen und rund um das Olympiastadion mit seiner riesigen Sprungschanze herum.

Am letzten Tag vor meiner Rückreise sah ich in dem zu einem Fußballstadion umfunktionierten Olympiastadion noch ein Freundschaftsspiel zwischen den Frauennationalmannschaften von Deutschland und der Schweiz (8:0).

- Sport -

In irgendeiner Form trieb und treibe ich heute noch „Sport“ oder treffender ausgedrückt: ich bewegte mich und bewege mich noch heute.

Schon in der frühen Kindheit hielten wir uns in jeder freien Minute im Freien auf, kletterten auf den Bäumen rum, machten Wettrennen, spielten „Fangerles“ und „Versteckerles“, Völkerball, Handball und vor allem Fußball, „Treiberles“, fuhren im Winter mit unseren Schlittschuhen auf dem Eis in den Regenrinnen und den Bombentrichtern herum oder waren mit unseren Schlitten im ganzen Dorf und auf den umliegenden Hängen unterwegs und liefen immer wieder auch hinaus zu den benachbarten Wäldern und hinunter zum Kohlbach, auf dem wir unsere geschnitzten Schiffchen bis zur „Egonmühle“  begleiteten und dabei viele Male über den Bach springen mussten.

Tägliche Bewegung war Bestandteil unseres Lebens; nirgends schränkten parkende Autos, eingezäunte Grundstücke oder um die Karriere ihrer Sprösslinge besorgte ehrgeizige Mütter unseren Bewegungsdrang ein, und vor allem konnte uns damals der „Fortschritt“ in Gestalt von Handy, Smartphone, Computer und Fernsehen noch nicht die Unmenge an Zeit „stehlen“, wie es heute der Fall ist.

Es muss um das Jahr 1950 gewesen sein, als ich mit einigen von meinen Freunden einmal pro Woche das von Alfred Guggolz und Herrmann Mohr angebotene „Turnen“ im Turnhäusle beim Sportplatz besuchte; Gymnastik und Übungen an Bock, Barren und Reck standen im Mittelpunkt.

Einige Jahre später beteiligte ich mich auch an leichtathletischen Wettkämpfen in Sulzfeld, Eppingen, Sinsheim und am „Bergfest“ auf dem Steinsberg bei Weiler.

An letzterem Ort war es auch das einzige Mal, dass ich einen ersten Platz in der Disziplin „Weitsprung“ belegen konnte; dieser Erfolg war aber nur der Abwesenheit des Abonnenten für diesen Platz, Helmut Pfleger, zu verdanken.

Ansonsten galt: “Dabei sein ist alles“; Spaß gemacht hat es mir trotzdem.

Meine Leidenschaft aber galt dem Fußball, aber auch in dieser Sparte gilt das oben angeführte Motto.

Vorausgesetzt, wir konnten einen Gegenstand auftreiben, der auch nur entfernt aussah wie ein Ball und auch die Mindestanforderungen an dessen Eigenschaften erfüllte, bolzten wir auf den Straßen der Bäreninsel herum, bevorzugt auf der Neuen Bahnhofstraße.

Anfangs bastelten wir die Bälle selbst, oft aus Weidenruten, die wir um geformte alte Lappen bogen.

Später tauchten dann die ersten Gummibälle auf; abwechselnd schaffte es einer von uns, seine Eltern zum Kauf dieses für uns so wichtigen Gegenstandes zu überreden. Derjenige, der dies schaffte, war dann der „Boss“, denn er bestimmte, wer mitspielen durfte und wann das Spiel zu Ende war.

1954 bekam ich den ersten Kontakt zum Fußballverein.

Die A-Jugend wollte in Mühlbach ein Freundschaftsspiel austragen, konnte aber keine vollzählige Mannschaft stellen; nach mancherlei Zweifeln ließ ich mich zu einer Teilnahme überreden und fuhr dann am nächsten Tag mit dem Fahrrad zusammen mit den anderen zum Mühlbacher Sportplatz; ein Trikot und die Stutzen gab man mir, der Rest bestand aus meiner kurzen Sporthose und meinen Sandalen.

Nach dem 23:0 für uns - die Mühlbacher hatten nur sechs oder sieben Spieler zusammengebracht - hatte Schiedsrichter Heinz Söder ein Einsehen und pfiff Mitte der zweiten Halbzeit ab.

Als meine Mutter abends mein nachmittägliches Tun herausfand, wurde sie fuchsteufelswild und verbat mir solches ein für alle Mal.

Solange ich unter ihrer Fuchtel stand, blockierte sie mir diese Sportart mit allen Mitteln; als ich mir ein paar Wochen nach dem Spiel in Mühlbach das Geld für ein Paar Fußballschuhe angespart und dann bei Schuhmacher Mohr gekauft hatte, verbrannte sie mir diese kurze Zeit später.

Mit 16 gehörte ich trotzdem zum Kern der A-Jugend und verpasste die nächsten drei Jahre kaum ein Spiel.

Zur Meisterschaft im Kreis Sinsheim reichte es aber nie, da die Eppinger immer besser waren; einen Wesolowski auszuschalten, gelang weder mir noch anderen.

Mein Debut in der ersten Mannschaft des FV Sulzfeld in einem Verbandsspiel in Bargen bedeutete auch gleichzeitig mein Ende in diesem Verein.

Erst 1963 - nach der Versetzung an die Grund-und Hauptschule im Nachbarort Mühlbach - schloss ich mich wieder einem Verein an und spielte dann etwa 25 Jahre beim VFL in der zweiten und ersten Mannschaft als rechter Verteidiger; zwei Abstiege aus der A-Klasse und die sich anschließenden Wiederaufstiege ragen in dieser Zeit heraus.

In den letzten 10 Jahren beim VFL genoss ich die tolle Stimmung und Kameradschaft bei den „Alten Herren“.

Nach der Erlangung des Trainerscheins 1976 an der Sportschule war ich auch noch fünf Jahre als Schiedsrichter für den Verein tätig.

Ich habe nur beste Erinnerungen an den Verein und die Mühlbacher und möchte diese Zeit nicht missen.

Im Frühjahr 1975 machte ich Bekanntschaft mit einer weiteren Sportart, welche die nächsten 23 Jahre meines Lebens wesentlich (mit-) prägen sollte: das Spiel mit der kleinen Filzkugel - Tennis.

Zusammen mit meinem Schwager Horst und weiteren Freunden hatte ich seit 1970 regelmäßig in einem Raum der „Volksschule“ Tischtennis gespielt.

Bei einer der sich anschließenden „Pflichtsitzungen“ im Gasthaus „Hirsch“ nahmen wir zwangsläufig an der an den Nebentischen gerade tagenden Gründungsversammlung der Tennisabteilung des Turnvereins teil.

Was sich diesem Abend alles noch im Einzelnen ereignet hatte, weiß ich nicht mehr, aber auf dem Nachhauseweg trug ich jedenfalls eine unterschriebene Beitrittserklärung in der Tasche; nach 17 Jahren war ich wieder ein Teil des Turnvereins geworden.

Es bedürfte allein einer kleineren Broschüre, um all die Aktivitäten und die Zeit zu schildern, die ich in den 23 Jahren bis zu meiner Erkrankung im Jahre 1998 in diese Sportart investiert habe.

Nachdem ich unter der Anleitung von Dieter Hikl die ersten „Gehversuche“ hinter mich gebracht hatte und es schaffte, die Filzkugel wenigstens ein paarmal über das Netz zu befördern, zogen mich die - anfangs zwei - roten Rechtecke am Ende der Neuhöferstraße magisch an; jede freie Minute trieb ich mich auf ihnen - und später auch anderen - herum.

Nach zwei Jahren waren wir im Stande, eine Mannschaft zu den Medenspielen - so heißen die Verbandspiele in der Tennisbranche - anzumelden, konnten am Ende aber nur den internen Titel „Sulzfeld Nullneun“ erringen, denn wir hatten kein einziges Spiel gewonnen.

Obwohl sich dieser Zustand auch in den nächsten beiden Jahren nicht wesentlich änderte, gaben wir nicht auf und schafften im fünften Jahr den Aufstieg in die nächst höhere Klasse.

Nach 10 Jahren waren wir zwei weitere Male aufgestiegen.

Meine Tätigkeit als Trainer und Sportwart verlangte doch einigen Zeitaufwand.

Nach dem B-Schein im Fußball erhielt ich 1982 nach zwei Lehrgängen an der Sportschule Ludwigsburg und zwei weiteren an der Sportschule Schöneck auch die Trainerlizenz im Tennis.

Große Erfolge stellten sich nicht ein; die Tätigkeit als Tennistrainer ermöglichte mir aber die Finanzierung meiner Reisen und weiterer Hobbys.

1998 kam dann mit meinen Herzproblemen das abrupte Ende; aus Enttäuschung darüber kündigte ich alle Mitgliedschaften und zog mich völlig zurück.

Die nächsten 10 Jahre zwang mich meine Pumpe zur nahezu völliger Abstinenz sportlicher Tätigkeit; erst 2008 - nach verschiedenen Interventionen an diesem Zentralorgan - ermöglichte mir mein erstes E-Bike wieder umfangreichere Aktivitäten, die ich heute noch pflege.

- Reisen –

Woher letztendlich meine Motivation nach der Sehnsucht in die Ferne resultierte, weiß ich nicht; ich denke, mehrere Konstellationen könnten auf die Entstehungsgeschichte dieses Verlangens hindeuten.

Im Herbst 1954 legte uns Herr Türck, unser Geographielehrer am Progymnasium Eppingen, den Kauf des Diercke-Weltatlasses nahe, präziser, er verlangte von uns den Erwerb dieses nicht ganz billigen Kartenwerkes.

Anscheinend war mein Wunsch bzw. der Druck von Karl Türck so groß, sodass dieses in dunkelgrüner Farbe gehaltene Kartenwerk bereits zwei Wochen vor dem Heiligen Abend in meinem Besitz war; es nahm ab sofort eine zentrale Funktion in meinem Alltag der nächsten Tage und Wochen ein und liegt heute noch in meinem Regal.

 Ich schaute mir immer wieder die faszinierenden Bilder in diesem farbigen Abbild unserer Erde und des Himmels an.

Auch mein Vater interessierte sich allmählich für dieses Buch, so dass es im Laufe der Zeit zur Gewohnheit wurde, nach dem Abendessen den Atlas auf den abgewischten Küchentisch zu legen.

Ich animierte ihn zu einem Suchspiel, mit dessen Prinzipien er nach meiner Erläuterung einverstanden war.

Auch zwei meiner Schwestern beteiligten sich anfangs; leider erlahmte ihr Interesse relativ schnell, sodass wir das „Spiel“ alleine spielten.

Wie lief es ab?

Ganz einfach.

Mein Vater nannte einen aus der aufgeschlagenen Seite ersichtlichen Begriff - den Namen eines Flusses, einer Stadt, eines Landes, eines Berges, einer Meerenge - und wir Kinder versuchten, ihn zu lokalisieren.

Dem „Entdecker“ wurde jeweils ein Punkt gutgeschrieben.

Nachdem meine Schwestern die Segel gestrichen hatten, spielte ich mit meinem Vater alleine weiter, oft jeden Tag stundenlang; dafür bin ich ihm heute noch dankbar.

Eine weiterer Umstand forcierte mein Interesse an unserem Planeten ganz entscheidend.

Ab 1952 lag jedem Kauf eines Sanella-Margarinequaders ein Bild bei.

Die Bilder zeigten Menschen und Tiere der ganzen Erde.

Für jeweils eine Mark konnte man die dazu gehörigen Alben erstehen.

Ich kaufte mir zwei Alben: Afrika und Südamerika.

Da es bei uns damals nur noch Sanellamargarine gab, schaffte ich es in kurzer Zeit, die neben die Textstellen markierten Freiräume mit den passenden Bildern auszufüllen.,

Beide Alben habe ich noch heute, und ein Blick in sie begeistert mich immer wieder, denn Begriffe wie „Okapi“, „Piranha“ oder „Zuckerhut“ kannte ich vorher nicht.

Größere Reisen waren aber auch 1960 aus Geldmangel noch nicht möglich.

Erst im Sommer 1961 überquerte ich zum ersten Mal die Grenzen Deutschlands; in einem Fiat 600 und einem „Käfer“ fuhr ich zusammen mit fünf Freunden über den Großglockner nach Jesolo an die Adria, wo wir auf dem Campingplatz „NSU Cavallino Lido“ zwei Wochen zelteten.

1965 fuhren Heidrun und ich über die Schweiz und Südfrankreich an die Costa Brava, 1968 bestieg ich anlässlich unserer Hochzeitsreise nach Teneriffa zum ersten Mal ein Flugzeug, die erste Überseereise erfolgte 1977 nach New York.

Alle Reisen der nächsten 40 Jahre - 15 Jahren fuhren wir auch mit unserem Campingbus kreuz und quer durch Europa - hier aufzulisten, wäre zu aufwändig.

Allerdings möchte ich folgende Reisen doch kurz erwähnen, weil sie mich stark beeindruckten und formten:

Quer durch Israel und den Sinai mit Reiner Vorberger, runter und rauf mit einem Mietwagen durch Ägypten mit Eckart, zweimal Marokko und Tunesien, die zwei USA-Reisen mit Heidrun, meine Fahrten mit Antje durch Kolumbien, Bangkok, Java und Bali, die              

 die tollen Erlebnisse mit Kurt in Sumatra, Simbabwe, Ecuador, Tansania und hinauf zum Kilimanjaro, die Mexiko-Reise mit Heidrun, Thailand- und Malaysiatour mit Singapur/Hongkong, Bali mit Heidrun und die dreimalige Südafrikatour.

Warum war Reisen ein besonderer Aspekt in meinem Leben?

War es eine Flucht? War es die Neugierde auf Neues, Interessantes und Anderes?

Wollte ich meinen „Horizont“ erweitern?

Versprach ich mir ein besseres Image?

Erhoffte ich ein Gefühl von Glück und Freiheit?

Neue Inspirationen?

Wollte ich meine Grenzen austesten?

Den Kopf frei bekommen und durchatmen?

Wieder merken, was man am „Zuhause“ hat?

Ich kann es nicht sagen, finde keine eindeutige Antwort.

Vielleicht spielten alle die genannten Faktoren eine Rolle, einige mehr, andere weniger. Ich weiß nur sicher, dass mir die Auswahl der Reiseziele und die Vorbereitungen - in den ersten Jahren gar nicht so einfach - viel Freude bereiteten; es machte einfach Spaß, all die mannigfaltigen Möglichkeiten zu sehen und dann alles detailliert vorzubereiten.Wenn dann das Geplante die Erwartungen erfüllte und alles klappte, war es schon ein schönes Gefühl.

Im Internet fand ich diese Bemerkungen, die ich in Teilen vertreten kann:

„Die Fremde ist jener Teil der Welt, in dem wir uns nicht auskennen und uns

folglich unsicher und angreifbar fühlen.  Zu reisen verlangt die Bereitschaft, sich einem Risiko auszusetzen, und wir tun es, weil Fremdheit zwar bedrohlich, aber gleichzeitig verlockend ist. Nur wer die Angst bezwingt und das Bedürfnis nach  

vertrauter Umgebung suspendiert, wird den Gewinn genießen, den wir uns vom Reisen erhoffen. In kognitive Verwirrung zu geraten ist Teil der Erfahrung“.

- Herz -

Alle nachfolgenden Ausführungen und Anmerkungen betreffen das Herz nur als Organ, als physikalisches Instrument zur Versorgung des Körpers mit Blut, keineswegs als Metapher für emotionale, ethische oder moralische Dimensionen; ob sie bei der geschilderten Problematik auch eine Rolle gespielt haben könnten, bleibt spekulativen Überlegungen überlassen.

Nach den Sommerferien im Jahr 1994 spürte ich beim Lehrersport während des dem Volleyballspiel nachfolgenden Fußballspiels Schmerzen in der linken Brustseite; sie verschwanden nach einer kleinen Pause, meldeten sich aber bei der nächsten Belastung zurück.

Bei „Georg“ meinte Kollege Hartmut, ich sollte doch mal das Herz untersuchen lassen.

Da ich nahezu mein ganzes Leben Sport getrieben und noch nie mit diesem Organ Probleme gehabt hatte, hegte ich einen gewissen Zweifel an seinem Rat, ließ mich aber einige Zeit später von Dr.Schulze zu einem Kardiologen nach Heilbronn überweisen.

Nach der Untersuchung empfahl er mir eine Katheteruntersuchung an der Uni-Klinik Würzburg.

Meine damaligen ersten Erfahrungen mit dem Internet ließen mich einen Professor Mehmel am Städtischen Krankenhaus in Karlsruhe entdecken, und er führte kurze Zeit später die Untersuchung durch; sie ergab zwei leichtere Stenosen (78 und 81%) an der Riva.

Er dilatierte sie, und damit war die Sache behoben.

Als aber vier Jahre später dieselbe Symptomatik wiederum auftauchte, war ich schon beunruhigt.

Dieses Mal fand er an einem höheren Abschnitt der Riva eine 94%-ige Engstelle, die er nach Dilatation mit einem Stent offenhielt.

Kurzum: Von 1998 bis 2016 wurden in insgesamt 13 Herzkathetereingriffen immer wieder sich bildende Stenosen dilatiert und mit Stents versorgt, so dass bis jetzt sechs dieser Plantingebilde den Blutfluss gewährleisten.

Als man 2007 bei einer Katheterintervention in Karlsruhe zwei über 90-zigprozentige Verschlüsse im Hauptstamm feststellte, erklärte man mir eine Bypassoperation als absolut notwendig; sie sei alternativlos.

Ich hatte mir diesen doch martialischen Eingriff bereits früher im Internat angeschaut und hatte eine panische Angst davor.

Nach mehreren harten Diskussionen mit dem Chefarzt und seinen Oberärzten und der Unterschrift auf einige Formulare, fuhr ich quasi einarmig mit meinem Campingbus wieder nach Hause; der andere Arm war durch den Kathetereingriff noch fixiert.

Als ich dann zwei Tage später die erbetene DVD, die den gesamten Eingriff und dessen Diagnose enthielt, in den Händen hielt, fertigte ich 10 Kopien davon an und schickte jeweils eine an die 10 größten Kardiologiezentren in Deutschland, mit der Bitte, mir kurz mitzuteilen, ob es zu der angeratenen Bypassoperation ihrer Meinung nach eine alternative Behandlungsmethode gäbe.

Erstaunlicherweise antworteten alle 10 Institute, zum Teil mit sehr detaillierten und fundierten Ausführungen ihrer vorgeschlagenen Behandlungsweisen.

Acht davon lehnten eine Beseitigung der Engstellen im Hauptstamm mit Hilfe eines Katheters und Stents rundweg ab; sie hatten einen solchen Eingriff noch nie durchgeführt und hielten seine Durchführung für zu riskant.

Nur das Herzzentrum in Bad Krozingen und das Deutsche Herzzentrum in München erklärten sich bereit, den Kathetereingriff am Hauptstamm durchzuführen.

Aus persönlichen Gründen entschied ich mich für München, wo am 11.Februar 2004 die Stenosen beseitigt wurden.

Die Intervention dauerte weit über zwei Stunden und war sehr schmerzhaft (normalerweise ist eine Katheteruntersuchung völlig schmerzfrei), und als nach einer Stunde plötzlich zwei weitere Ärzte dazu gekommen waren, wurde mir klar, dass es Komplikationen gegeben haben musste.

Nach zwei Nächten und drei Tagen auf der Intensivstation und nach einem weiteren Tag in einem Patientenzimmer wurde ich dienstags entlassen.

Als ich durch die Flure und die Treppen zum Parkplatz ging, bekam ich plötzlich starke Schmerzen im gesamten Brust-und Rückenbereich sowie in den Oberarmen.

Ich verbrachte noch eine Nacht bei meiner Tochter Antje, und am nächsten Tag fuhren Heidrun und ich wieder nach Sulzfeld.

Unserer Meinung waren diese Schmerzen dem doch etwas komplizierteren Eingriff zuzurechnen, und sicherlich würde sich alles in absehbarer Zeit da drinnen wieder „beruhigen“.

Diese Hoffnung trog, denn während der Fahrt und zu Hause quälten mich diese Schmerzen massiv, und auch die hinzukommende Atemnot war sehr beängstigend, ebenso wie die Feststellung, dass der Schmerzpegel auch in Ruhe nicht sank.

Für mich heute unerklärlich, plagte ich mich acht Wochen in diesem Zustand zuhause herum, ehe ich bei Dr.Pache in München anrief; ich hatte ihn nach dem Eingriff und in dem viertägigen Aufenthalt in der Klinik nicht ein einziges Mal gesehen, und auch jetzt äußerte er sich erst nach mehrmaliger Nachfrage zu dem Akt am 11.2.2004.

 

Fazit:

Er hätte die zwei Stents im Hauptstamm doch gut platzieren können, hätte aber gezwungenermaßen drei wichtige, benachbarte Blutgefäße „überstenten“ müssen; ich solle doch nach München kommen, er würde versuchen, die Blockaden dieser drei Arterien zu beseitigen und sie wieder durchlässig zu machen.

Dazu hatte ich aber keine Lust mehr.

Die meiste Zeit von Anfang April bis zum 8.August 2008 verbrachte ich im Bett oder vor dem Fernseher, denn nahezu jede  Anstrengung provozierte starke Schmerzen.

An letzterem Datum wachte ich morgens gegen vier Uhr auf; ich hatte Schmerzen im Brustbereich und litt unter Atemnot.

Da meine Frau in München war, rief ich den Notarzt an.

Er wollte mich ins Krankenhaus nach Bretten bringen lassen, aber alle Krankenwagen waren unterwegs.

Um 8.30 Uhr rief ich bei meinem Kardiologen in Bruchsal an; ich wusste, dass er immer samstags im Städtischen Krankenhaus Karlsruhe „Katheter schob“.

Ich schilderte ihm meinen Zustand, und zwei Stunden später informierte er mich, dass ich am nächsten Tag um 7 Uhr in Karlsruhe sein sollte. Ich vermute, er hatte einen weniger dringenden Fall storniert.

Gegen 7.30 Uhr verabreichte er mir das Kontrastmittel und konnte kaum glauben, was er sah: die große Vorderwandarterie (Riva) war im oberen Segment zu 96% verschlossen, d.h., der Großteil des Herzens konnte bei Belastung nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt werden; daher die Schmerzen und die Atemnot.

Zum Glück kam er mit seinem kleinsten Katheter durch die Engstelle durch und konnte anschließend mit im Durchmesser immer größeren Kathetern die Stenose vollkommen beseitigen.

Bereits in der ersten Phase der Dilatation spürte ich, wie der Druck und die Schmerzen langsam verschwanden, und als dann der 50 mm-Stent mit 15 bar eingepresst war, fühlte ich mich wie neu geboren.

Da er schon immer gegen den Eingriff in München gewesen war, suchte er natürlich jetzt Argumente gegen die Intervention am Hauptstamm in München und mutmaßte, dass die gerade behobene Stenose daraus resultiert hatte, was ich aber nicht glaube, denn die überstenteten Arterien sind wesentlich weiter oben.

In den folgenden fünf Jahren konnte ich mich wieder einigermaßen bewegen (E-Radfahren, Lehrersport, Wandern).

Da das Problem mit den überstenteten Arterien nach wie vor vorhanden ist, wird das Herz bei höherer Belastung nur mangelhaft versorgt und reagiert dann wie gewohnt: mit Schmerzen, beginnend etwa bei einer Pulsfrequenz von 115/Min.

Positiv dabei ist, dass nach die Schmerzen nach kurzer Zeit wieder verschwunden sind, sodass ich ganz selten das Nitro-Spray verwenden muss.

Eigentlich bestimme ich durch mein Verhalten den „Aggregatzustand“ meiner Pumpe; das ist doch schon mal etwas.

Aus bis heute unerfindlichen Gründen - ich hatte meine Ernährung auf die Dr.Ornischdiät umgestellt, hatte mich in meinem Leben immer bewegt, der „Schulstress“ war weg, genetisch war keine Veranlagung bekannt, nie geraucht -  verstopften immer wieder Kranzgefäße am Herz. So war es auch 2013 wieder so weit: zwei Engstellen hatten sich entwickelt, die in Karlsruhe von Dr. Ringwald beseitigt und mit zwei beschichteten Stents stabilisiert wurden.

Drei Jahre später lag ich erneut auf dem Tisch, um den zwölften „Kathetergang“ über mich ergehen zu lassen.

Was war passiert?

Nach einem sehr guten Abendessen im Restaurant bei der Talstation der „Jochbergbahn“ oberhalb von Vals in Südtirol, bekam ich heftige Brustschmerzen und Atemnot, die ich mit Hilfe von einigen Dosen Nitropray reduzieren konnte.

Am nächsten Morgen fuhren wir mit unserem Campingbus auf schnellstem Weg nach Hause, und am Montagmorgen um 7 Uhr wartete ich vor dem Operationssaal der Uni-Klinik Heidelberg auf meine Katheteruntersuchung.

Gegen 14 Uhr teilte man mir mit, dass die Untersuchung auf den nächsten Tag verschoben werden muss, da akute Fälle Vorrang haben.

Als er sich dann am Dienstagmorgen knapp 30 Minuten in meiner Pumpe umgeschaut hatte - immer wieder von seinem leisen Singsang untermalt - teilte mir Professor Katus kurz mit, dass es zu einer Bypassoperation keine Alternative gäbe; er würde alles Notwendige für den morgigen Eingriff veranlassen. Dann verschwand er.

11 Jahre später war ich also wieder mit demselben Dilemma wie in Karlsruhe konfrontiert, und erneut bedurfte es meinerseits heftigster Argumentation, um am späten Abend den „Entlassschein“ zu bekommen; verschiedenste Ärzte hatten sich nicht gescheut, mich mit brutalen Argumenten („Todesgefahr“) zu einer Einwilligung zur Bypassoperation zu überreden.

Am nächsten Tag rief ich Dr.Ringwald in Bruchsal an und schilderte ihm die Situation.

Er hielt eine Bypassoperation auch für das Richtige - wie 11 Jahre zuvor - bot mir aber an, noch einmal alles zu durchdenken; wenn ich mich für eine Katheteruntersuchung entscheiden würde, könnte er sie zwei Tage später durchführen.

Kurz vor 12 Uhr rief ich ihn an, und wir vereinbarten den Termin des Eingriffs auf den 2.November.

Am Tag zuvor (Feiertag) teilte er mir in einem kurzen Anruf mit, dass er die Katheteruntersuchung nicht durchführen werde. Auf Fragen meinerseits reagierte er nicht und legte auf.

Von einem solchen Verhalten eines Arztes, zu dem ich nahezu 20 Jahre Vertrauen gehabt hatte und dessen Arbeit ich in dieser Zeit bei allen Gelegenheiten positiv erwähnt hatte, war ich zutiefst schockiert; ich konnte und kann bis heute keine Gründe dafür finden.

Da ich die Probleme ohne die Verwendung von Nitroligual nicht in den Griff bekam, musste ich schnellstens nach Hilfe finden.

Ich fand sie bei Professor Hennersdorf in Heilbronn.

Drei Tage später hatte er mit drei weiteren Stents die massiven Stenosen beseitigt; in einer nachfolgenden Intervention wollte er nach vier Wochen noch drei Stents setzen.

Im Januar 2017 rief ich ihn aber an, schilderte ihm meinen aktuell „brauchbaren“ Zustand und vereinbarte mit ihm, dass ich mich bei einer auftretenden Verschlechterung sofort melden würde.

Ich spüre in den vergangenen Wochen, dass leichte Schmerzen bereits bei weniger Belastung auftauchen und dass auch sporadisch Rhythmusstörungen spürbar sind, aber ich huldige mal wieder einer meiner Lieblingseigenschaften:  der Kunst der Verdrängung.

- Ballreich –

Durch unsere kleine Landwirtschaft waren mir die meisten Gewannnamen in Sulzfeld gut bekannt.

Von einem Gewann „Ballreich“ erfuhr ich zum ersten Mal, als mir meine Frau 1971 mitteilte, dass wir die Möglichkeit hätten, in diesem Areal einen Bauplatz zu bekommen.

Als wir dann aber zu einer Besichtigung hinausfuhren, stellte ich fest, dass mir die Flurstücke sehr bekannt waren, denn ich war hier schon oft mit Skiern unterwegs gewesen, und im Krieg hatten wir manchmal auf dem Gelände Schutz vor den Fliegerangriffen gesucht; allerdings kannten wir dieses Gewann unter dem Namen „An der Kelter“, zurückzuführen  auf ein großes Sandsteingebäude, in das wir früher eingestiegen waren, um die vielen dort hausenden Eulen zu beobachten (während des Krieges wurden dort nachts die polnischen Zwangsarbeiter eingesperrt).

Dieses Gewann wurde ab 1971 als Bauland erschlossen, und so befreite ich im Frühjahr 1971 unsere 15 ar Weinberg von den Rebstöcken und anderem Bewuchs, und mit Hilfe eines Fußballkameraden aus Mühlbach - er brachte seinen Bagger mit - und des Vaters einer Schülerin - dieser seinen Laster - wurde dann im Sommer die Baugrube ausgehoben.

Wir bauten* das erste Ytonghaus in Sulzfeld, dessen Erstellung anfangs nicht ganz ohne Schwierigkeiten („I bin Mauerer, koin Kleberer“) verlief, aber im Frühjahr 1974 konnten wir drei - unsere Tochter Antje war im Januar 1971 geboren worden -  einziehen, nachdem meine Frau und ich seit unserer Heirat 1968 in der Gartenstraße gewohnt hatten. Mit der Geburt von Judith im März 1982 war unsere Familie komplett, und das Leben im „Ballreich“ nahm seinen Lauf.

Antje machte 1990 in Eppingen ihr Abitur, und nach dem Abschluss ihres Studiums an der Universität Heidelberg (Politik, Englisch und Sport) arbeitete sie vier Jahre in Paris.

Heute wohnt sie mit ihrem Mann Marcel Koos und ihren drei Kindern Lasse, Milan und Finni in München. Sie unterrichtet Sport und Englisch am „Staatlichen Gymnasium München-Nord“.

Judith machte 2001 in Eppingen ihr Abitur und arbeitete nach einer weiteren zweijährigen Ausbildung im Hotel „Brenners“ in Baden-Baden und später in der Nähe von Schwäbisch Hall.

Sie lebt und arbeitet heute mit ihrem Mann Stefan Weiß in Göteborg und ist gerade dabei, ihren „Master“ zu machen.

Glücklicherweise überlebte meine Frau eine schwere Erkrankung im Sommer 1998, und wenn unser „Finale“ noch einigermaßen glimpflich verlaufen sollte, können und werden wir uns nicht beschweren.

 

*Als ich den Lageplan erhalten hatte und ihn an Ort und Stelle mit den geographischen Gegebenheiten verglich, wusste ich sofort, dass unser Haus gemäß diesen Unterlagen nicht gebaut werden würde.

Der Hang ist exakt nach Süden ausgerichtet, die vorgeschriebene Lage wäre aber noch Norden versetzt gewesen, sodass

Balkon, Terrasse und Wohnzimmer ab dem späteren Nachmittag keine Sonne mehr bekommen hätten.

 

Als meine Anfrage von der Verwaltung nach längerer Zeit nicht beantwortet wurde, ließ ich die Baugrube etwa um 40° nach Osten versetzt ausheben und markierte später mit Hilfe vom Pythagoras die vier Eckpunkte des Gebäudes.

Als bei der Bauabnahme die Unstimmigkeit bemerkt wurde, mussten wir eine geringe Bußgebühr bezahlen, haben seither aber drei bis fünf Stunden länger Sonne.

 

Schule (1946 bis 1957)

 

Nachdem ich den Besuch des Kindergartens in der Hinteren Straße verweigert hatte – zwei Stunden an einem Vormittag 1944 hatten mich davon überzeugt, dass diese Institution nicht das Richtige für mich war – stand im April 1946 der Eintritt in die Grundschule an.

Ihm konnte ich nicht entkommen.

Ich weiß noch, dass meine Mutter mich eines Tages nach dem Mittagessen etwas „besser“ anzog und mit mir über die Luisenstraße zum Schulgebäude neben dem „Badischen Hof“ hinüberging.                                                                                                 

Vor dem großen Eingangstor auf der Ostseite des Gebäudes befahl sie mir, die Treppe hinaufzusteigen und verabschiedete sich dann, denn sie musste zu „Augustonkel“ und mit ihm und Elsa Kern hinaus zu seinen Äckern, wo Feldarbeiten auf sie warteten. So etwas wie Einschulung bzw. irgendwelche Feierlichkeiten zu diesem Anlass gab es damals noch nicht; man hatte Wichtigeres zu tun.

 

An was erinnere ich mich noch in diesen fünf Jahren bis 1951?

 

Etwa 50 Kinder saßen auf den damals üblichen Schulbänken mit ihren Klappsitzen und dem an der Oberseite eingelassenen Tintenfässern und harrten der Dinge, die die verschiedenen Lehrer mehr oder weniger kunstvoll, engagiert, streng oder nachsichtig vor ihren Augen zelebrierten.

Die erste Lehrerin in meinem Leben war eine gewisse Frau März; sie kam aus Sinsheim.

Ich saß damals in der ersten Bank, und ich glaube, es war noch keine Stunde vergangen, als sie mir die erste Ohrfeige gab; den Grund dafür weiß ich nicht mehr.

Genau erinnern kann ich mich aber noch an ihren Besuch bei uns zuhause ein halbes Jahr später.

Meine Mutter hatte mir einen Pullover aus brauner Wolle gestrickt, der auf der Vorderseite mit zwei sich gegenüberstehenden Hirschen verziert war.

Dieser Pullover hatte es ihr anscheinend angetan, denn sie wollte von meiner Mutter wissen, wie sie ihn angefertigt hatte; möglicherweise hatte sie eigene Kinder.

Die nächsten vier Jahre verbrachte ich unter dem Zepter von Herrn Englert.

Er war ein etwa 50-jähriger Mann, der sehr spät und nicht ohne Folgen aus dem Krieg zurückgekommen war.

Er saß meistens hinter seinem erhöhten Katheder und knabberte an seinen Fingernägeln herum; sie waren beinahe bis zur Nagelmitte abgebissen.

Wie er uns – zumindest den meisten – Lesen, Schreiben, Rechnen und andere Dinge beigebracht hat, weiß ich nicht mehr.

Andere Lehrer an der Schule waren Herr Eckert und Herr Friedmann.

Während letzterer sehr streng, aber einigermaßen gerecht war, war das Markenzeichen des ersteren brutales Prügeln und Erniedrigen von Kindern.

Meine Nebensitzer waren Peter Pottiez, Sohn der reichsten Familie in Sulzfeld, und Hans Hagenbucher. Dessen erste Handlung morgens war, das doch etwas umfangreichere Vesper aus seinem Schulranzen zu nehmen und auf der Fensterbank zu stapeln.

Die Winter damals waren oft sehr schneereich und bitterkalt, sodass wir manchmal zuhause bleiben konnten, weil nicht genügend Kohlen für den neben der Tafel stehenden Ofen zur Verfügung standen.

Um unsere Schiefertafeln zu reinigen, kratzten wir oft das sich an den Außenfenstern der Schule angesammelte Moos ab.

An manchen Tagen mussten wir übelriechenden Lebertran einnehmen; der größte Teil davon landete oft in den Tintenfässchen.

An irgendwelche Unternehmungen außerhalb der Schule, Wanderungen oder Naturerkundungen kann ich mich nicht erinnern, abgesehen von einer Aktion:

1948 und 1949 stiefelten wir – mit Eimern bewaffnet - in die Wälder und mussten Maikäfer einsammeln.

Bereits zu Beginn der 4.Klasse fiel zuhause immer mal wieder das Wort „Gymnasium“, und in der zweiten Schuljahrshälfte gab Frieda keine Ruhe mehr und setzte mir immer stärker zu.

Ich kann aus heutiger Sicht über die Gründe nur spekulieren, die mich davon abhielten, dem Wunsch meiner Mutter zuzustimmen.

Ausschlaggebend war, so denke ich, einfach mein mangelndes Selbstbewusstsein, das sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben zog, auch wenn es für viele nicht so den Anschein hatte und hat.

Woraus hätte es resultieren können?

Ich hatte bereits früh festgestellt, dass Menschen alles andere als gleich waren.

Es gab schöne und hässliche Menschen und vor allem: es gab arme und reiche Menschen.

1950 umfasste unsere Familie sechs Mitglieder: meine Eltern und wir vier Kinder.

Erstere mussten beide hart arbeiten, damit wir mehr schlecht als recht über die Runden kamen.

Wir wohnten auf engem Raum in einer schlicht möblierten Wohnung.

Daneben sah ich die andere Welt, denn mit 10 Jahren freundete ich mich mit einem Nachbarjungen an (evtl. auch er mit mir) und war oft bei ihm zuhause.

Ich war mit Erich Velten, dessen Großvater die Möbelschreinerei Friedrich mit ihrer großen Werkstatt gehörte und der mit seiner Mutter und seiner Schwester in einem pompösen Haus bei seinen Großeltern wohnte, eng befreundet und besuchte ihn sehr oft.

Ich fühlte mich nie sehr wohl in diesem Haus, was aber nur an mir lag, denn Lotte, Erichs Mutter, tat alles, dass ich mich der Familie hätte zugehörig fühlen können.

Ich habe mich später oft mit Lügen vor Einladungen gedrückt, denn auf der Straße fühlte ich mich wohler.

Obwohl Erich nie mit uns herumtobte und ganz selten das große Haus verließ, waren wir nahezu jeden Tag für Stunden zusammen, meistens bei ihm in seinem Zimmer, wo wir in seinem Bett gemeinsam „Tarzan“ lasen (1961 machten wir zusammen das Abitur).

Ich dachte einfach, dass ich bei einem Wechsel auf das Gymnasium erst recht mit dieser „Welt der Reichen“ konfrontiert werden würde und ihr nicht so leicht entfliehen könnte.

Zu meiner Unsicherheit und Labilität trug auch meine krumme Nase bei, die ich seit Mitte 1950 mit mir herumtrug.

Kurzum:

Ich widersetzte mich in der vierten Klasse mit aller Macht dem Wunsch und dem Befehl meiner Mutter zu einem Wechsel ins Progymnasium nach Eppingen; ich setzte mich auch durch, stand aber ein Jahr später wieder vor demselben Dilemma.

Im März 1951 waren wir bei Belschners bei einer Hausschlachtung, als der Briefträger meine Mutter erkannte und mir einen Brief hinhielt, den ich ihr geben sollte, denn dann könnte er sich den Weg auf die Bäreninsel ersparen.

Ich bemerkte sofort das Wort „Progymnasium“ und steckte ihn ein.

In der Scheune öffnete ich ihn und konnte dem Inhalt entnehmen, dass wir ein paar Tage später zur Anmeldung nach Eppingen kommen sollten.

Sie hatte mich also ohne meine Zustimmung angemeldet, hatte mich nicht einmal gefragt.

Voller Wut zerriss ich den Brief und rannte durch die Gärten und am Kohlbach entlang hinaus zum „Badhäusle“.

Dort trieb ich mich den ganzen Tag herum, bis ich ja abends wieder nach Hause musste.

Eine Woche später stand ich wartend mir ihr vor dem Rektorat im Schulgebäude in der Kaiserstraße in Eppingen, zusammen mit etwa einem Dutzend weiteren Aspiranten mit ihren Müttern.

Da unser Lehrer Englert es trotz aller Bemühungen nicht geschafft hatte, uns wesentlich mehr als die Grundkenntnisse des

Lesens, Schreibens und Rechnens beizubringen, hatte ich noch eine Chance, dem Progymnasium zu entrinnen: wenn ich die obligatorische Aufnahmeprüfung nicht bestehen würde, hätte sich die Sache von alleine erledigt.

Diese Chance war gar nicht so gering, denn die Durchfallquote war hoch.

Wie sich später herausstellen sollte, hing mein Schicksal an vier mündlichen Mathematik aufgaben.                             

Das Diktat und der geforderte Aufsatz stellten keine Probleme für mich dar – ich hatte ab der 3.Klasse alles gelesen, was ich erwischen konnte – aber von der überwiegenden Anzahl der bei den Mathematikaufgaben verwendeten Begriffe (Divisor, Addition, Multiplikation, etc.) hatte uns Herr Englert nichts erzählt.

Keine der gestellten Mathematikaufgaben hatte ich richtig gelöst.

Da aber das Ergebnis der Deutschprüfung in gewisser Weise darauf schließen ließ, dass der Kandidat doch nicht so ganz dumm sein könnte, gab man mir mit einer mündlichen Mathematikprüfung noch eine Chance.

In diesen fünf Minuten hätte ich selber entscheiden können, wohin mein Lebensweg gehen würde, aber anscheinend können die größten Aversionen gegen eine Schulform nicht bewirken, dass ein Zehnjähriger sich absichtlich und gewollt blamiert und bloßstellt.

Ergebnis: Ab April 1951 war ich Schüler des Progymnasiums

               Eppingen.*                 

„Alea iacta est“!

 

Unter dem Dach des Sandsteingebäudes in der Kaiserstraße in Eppingen versuchten sie, dem sich innerlich immer noch Sträubenden in den nächsten sechs Jahren wenigstens die Grundlagen des deutschen Kulturgutes beizubringen.

 

 

Sie?

Namen wie Siegel, Türck, Keiler, März, Bauer, Eger, Konrad, Eisenlohr und Häusermann fallen mir noch ein.

Wie bei Menschen allgemein – und bei Lehrern im Speziellen – prägen Erinnerungen der unterschiedlichsten Facetten und Nuancen das Bild der Betreffenden, und man könnte seitenweise Episoden und Begebenheiten wiedergeben.

Lassen wir das; für manche/n ist es besser so.

 

Meine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden kamen aus allen sozialen Schichten aus Eppingen und den Dörfern der Umgebung, so dass sich meine Befürchtungen bald in Luft ausgelöst hatten.

Während in der Sexta noch 35 Kinder das Klassenzimmer füllten, war die Schülerzahl ab der Quarta doch schon stark dezimiert, und 1957 verließen 23 Mädchen und Jungen mit der „Mittleren Reife“ in der Tasche das Progymnasium.

Um das Abitur zu erlangen, musste man sich für eines der Gymnasien in Bretten oder Sinsheim entscheiden.

Der Zusammenhalt und die Atmosphäre in unserer Klasse  waren sehr gut gewesen, was auch zu einem großen Teil unserem Klassenlehrer Karl Türck zu verdanken war; er streifte immer wieder mit uns durch den Kraichgau - fuhr mit uns auch mal nach Heidelberg und Karlsruhe - verließ oft die eigentlich obligatorischen Unterrichtsthemen  und verpasste keine Gelegenheit, uns mit seinen  „Lebensweisheiten“ und spaßigen Bemerkungen zu erheitern; als ebenso positiv auf unsere Klassengemeinschaft erwiesen sich die immer wieder in Elses „Ahnenkeller“ stattfindenden „Meetings“.

Diese sechs Jahre im Progymnasium Eppingen empfinde ich heute noch als eine sehr positiv und harmonisch verlaufene Phase meines Lebens; die Beziehung unter uns Kindern hätte nicht besser sein können. Dies zeigt sich auch heute noch bei den gelegentlichen Zusammenkünften.

 

*= Es ist sicher müßig und auch albern, sich die Frage zustelle, was wäre gewesen, wenn.......

In meinem Fall: Abitur oder Beruf.

Mein Interesse galt Autos, Motorrädern und Technik.

Es wäre denkbar gewesen, dass ich es in diesen Bereichen „zu etwas gebracht“ hätte, auch ohne eigenes Kapital. Die Chancen waren 1956 und danach riesig: Alles wuchs, breitete sich aus und gedieh.

Das Wirtschaftswunder lauerte in den Startlöchern, Scheitern war nahezu unmöglich.

 

War es „gut“, dass ich die vier Aufgaben richtig beantwortet hatte?

Ganz abgesehen davon, dass es keine andere Möglichkeit gab: die eindeutige Antwort ist „ja“.

Ich habe in den 37 Jahren als Lehrer Positives und Negatives erlebt, wobei ersteres eindeutig überwog.

Dass zu diesem interessanten und abwechslungsreichen Beruf eine zusammen mit meiner Frau erwirtschaftete völlig ausreichende und befriedigende Prosperität kam, ist sicher - auch - ein Beweis für mein richtiges Verhalten in der damaligen mündlichen Mathematikprüfung.

 

- Schule (1957 bis 1961) -

 

Diese positive und angenehme Atmosphäre traf ich in Bretten nicht an, weder in der neuen Klasse – Obersekunda – noch in der gesamten Schule.

Ich fühlte mich von Anfang an unwohl in meiner neuen Umgebung, so dass im Laufe des ersten Schuljahres am Melanchthongymnasium in Bretten meine alten Aversionen und Widerstände wieder aufbrachen.

Alles war überdimensioniert:

Die Schule, die Klasse, der Schulweg.

Mehr als 40 Jugendliche umfasste die Obersekunda, der Unterricht verlief wie an der Uni:

Vorne stand eine/r, dozierte oder schrieb die Tafel voll, und nach dem Klingelzeichen verschwand sie/er.

Als Menschen wurden wir von den meisten nicht wahrgenommen (die einzige Ausnahme war Herr Männle).

Genauso minimal waren auch die persönlichen Kontakte innerhalb der Klasse.

Außer zu Herbert Kritter aus Bretten und Helmut Schuster aus Oberderdingen hatte ich keine Beziehung zu der Klasse.

Auch der Schulweg war frustrierend:

Ob man den Dampfzug aus Sulzfeld am Brettener Bahnhof oder bereits in Gölshausen verließ: zu den 35 Minuten Zugfahrt kamen noch einmal 40 Minuten dazu, bei Sonne, Regen oder Schnee.

Neben der Schule hatte sich Weiteres geändert:

Ich war viel außer Haus und unterwegs.

Seit 1956 hatte ich ein Moped („Quickly“), mit dem ich ständig  durch die Gegend fuhr (1957 sogar durch den Schwarzwald zum Bodensee), und seit 1955 spielte ich Fußball, welcher eine immer größere Rolle in meinem Leben einnahm (mit all seinen positiven und negativen Auswirkungen). Schule wurde immer mehr zur Last.

Möglicherweise dienen mir all diese Faktoren nur als Vorwand für das, was zwangsläufig eintreten musste; dass es mich aber in einer Sprache (Französisch) erwischen würde, hätte ich nicht gedacht; wenn schon, dann war immer Mathematik mein Favorit gewesen.

Heute egal, auf jeden Fall übernahm ein gewisser Lehrer Kleinheinz („Joe“) die Rolle des Vollstreckers.

Er muss krank gewesen sein und hätte nie unterrichten dürfen, und da ich einer der wenigen war, die auf seine vermeintlichen Geistesblitze nicht mit Lachen reagierte, hatte er mich schon lange auf dem Kieker.

Im Dezember 1957 hatte ich zusammen mit Herbert Kritter das Länderspiel der deutschen Fußballnationalmannschaft im Niedersachsenstadion in Hannover besucht.

Wir hatten uns dafür einen Tag „freigenommen“ und kamen zwei Tage später erst gegen Morgen wieder aus Hannover zurück.

Nach einem kurzen Frühstück bei „Herles“ Mutter kamen wir ziemlich geschafft in die Schule.

„Joe“ muss das aufgefallen sein, oder er hatte den Grund unseres Fehlens herausgefunden, denn plötzlich legte er zwei leere Blätter vor uns auf den Tisch und verlangte eine Zusammenfassung der am Vortag begonnenen Lektion.

Höhnisch grinsend nahm er am Ende der Stunde die leeren Blätter entgegen.

Diese „Sechs“ gab dann den Ausschlag.

Ich unterschlug noch zwei Briefe, in denen meine Mutter zu einer Vorsprache in der Schule aufgefordert wurde, aber am letzten Schultag vor Beginn der Osterferien hatte ich es schriftlich in den Händen: Sitzenbleiber.

Ich konnte ihr diese Tatsache nicht verschweigen, zeigte ihr aber das Zeugnis in Anwesenheit von Tante Rosa und Onkel Konrad, die damals gerade aus Biberach zu Besuch gekommen waren; möglicherweise trug deren Anwesenheit dazu bei, dass ihre Reaktion etwas verhaltener ausfiel.

Für mich stand eines fest: niemals mehr Schule!

Dieser Entschluss bewog mich, nach Ostern verschiedene Firmen aufzusuchen und mich nach Arbeitsplätzen zu erkundigen.

Bei der E.G.O. in Oberderdingen unterschrieb ich dann einen Ausbildungsvertrag zum Großhandelskaufmann, dessen Inkrafttreten aber noch von der Unterschrift meiner Eltern abhing.

Die Gründe, warum ich dann während der Osterfeiertagen im Arbeitsamt Karlsruhe telefonisch einen Gesprächstermin vereinbarte, sind mir heute nicht mehr bekannt.

Tatsache ist aber, dass der Besuch in Karlsruhe alles änderte.

Ich weiß noch, dass mir in dem kleinen Büro ein älterer Mann gegenübersaß, mir zunächst ruhig zuhörte und dann durch gezielte Fragen mehr von mir, meiner Situation, meinem Umfeld und meinen Vorstellungen herausfinden wollte.

Wie er es letztendlich geschafft hatte, meinen Widerwillen gegen alles, was mit Schule zu tun hatte, zu beseitigen bzw. zu reduzieren und mich dazu zu bewegen, doch noch das Abitur anzustreben, weiß ich heute im Einzelnen nicht mehr.

Das Ergebnis seiner Bemühungen war jedenfalls, dass ich auf der Rückfahrt von Karlsruhe in Bretten ausstieg, den weiten Weg zum Melanchthongymnasium hinauflief und mich für die Obersekunda anmelden wollte.

Leider hatte ich meiner „Begeisterung“ vergessen, dass Schulen in den Ferien im Allgemeinen geschlossen sind.

Dieser Umstand konnte aber den Neubeginn nach Ende der Osterferien 1958 nicht verhindern.

Und es wurde ein Neubeginn, in jeder Hinsicht.

Ausschlaggebend war vor allem die Klasse.

Sie war wesentlich kleiner – ich denke, sie umfasste knapp 20 Jugendliche – und ich hatte von Anfang an das Gefühl, wieder in meiner Klasse im Progymnasium in Eppingen zu sein.

Meine Ängste und Befürchtungen zerrannen wie Schnee in der Frühlingssonne, und ich war in kürzester Zeit voll in der Klassengemeinschaft integriert.

Viele abwechslungsreiche und interessante Aktivitäten – auch auf privater Ebene – prägten diese drei Jahre bis zum Abitur 1961; nicht zuletzt trug das verständnisvolle und engagierte Verhalten unseres Klassenlehrers, Herrn Brandes, zu diesem positiven Gesamtbild bei.

Nachdenklich dabei: Welche Zufälle, Kleinigkeiten und Situationen doch einen Lebensweg beeinflussen und mitbestimmen können.

 

- Studium -

 

Mit einem Notendurchschnitt von 2,8 wären heutzutage die Studien-Chancen doch etwas eingeschränkt; 1961 bedeutete es „besseres Mittelmaß“, und für meine doch nicht übermäßigen Bemühungen konnte ich mich nicht beklagen.

Ich war mit meinem Abitur zufrieden, hatte ich doch erst in der letzten Phase meine Hobbys zugunsten der Lernerei etwas reduziert.

Abitur – ok, aber was jetzt?

Ich hatte mir vor dem Abitur wegen einer Berufs-bzw. Studienwahl noch keinerlei Gedanken gemacht, da ich fest mit einer Einberufung zur Bundeswehr gerechnet hatte, vor allem, als mir dann auch im März 1961 der Termin zur Musterung mitgeteilt wurde.

Wenige Tage vor diesem Termin beschloss der Bundestag in Bonn, dass „männliche Nachkommen“ der im 2.Weltkrieg gefallenen Soldaten vom Wehrdienst befreit sind.

Ich weiß heute nicht mehr, ob ich damals froh oder unglücklich war, als ich diesen „Befreiungsschein“ kurze Zeit später in den Händen hielt, auf jeden Fall war damit eine völlig neue Situation eingetreten: was tue ich jetzt? Wo soll`s langgehen?

Ich hatte mir noch nie Gedanken wegen meiner Zukunft bzw. einer Berufswahl gemacht.

Wer oder was letzten Endes den Ausschlag zum Lehrerstudium gab, ist mir heute nicht mehr klar.

Gab die Tatsache, dass drei meiner Freunde sich zum Lehrerberuf entschlossen hatten, den Ausschlag, oder hatte „sie“ mit ihrer jahrelangen subtilen Beeinflussung und Strategie doch noch ihr Ziel erreicht?

Ich weiß es einfach nicht.

Ich kann mich nur noch erinnern, dass diese Berufsfindungsphase meinerseits durch eine massive Unsicherheit und starke Zweifel geprägt waren, verursacht durch mangelndes Selbstbewusstsein und – immer noch und immer wieder – durch eine krumme Nase.

Trotz dieser wankenden Einstellungen zu meinem zukünftigen Beruf meldete ich mich am Pädagogischen Institut in der Bismarckstraße 10 in Karlsruhe an und begann am 2.Mai 1961 – zusammen mit etwa 200 weiteren Kommilitoninnen und Kommilitonen – mein auf vier Semester angelegtes Pädagogikstudium.   

Ich fuhr also morgens am 2.5.61 um 6 Uhr mit dem Dampfzug nach Karlsruhe und ging dann zu Fuß etwa 40 Minuten zur Bismarckstraße.

Nach der Anmeldung trafen sich alle Aspiranten um 10 Uhr im großen Hörsaal, wo sie dann detaillierte Infos über ihr Studium erhielten.

Ich weiß noch heute, welches Gefühl mich beherrschte und dominierend präsent war:

Hier gehöre ich nicht hin. Das ist nicht überschaubar für mich; ich will wieder in meine kleine „Bäreninsel“.

Es muss eine Form von Panik gewesen sein, die mich in diesem Saal ergriffen hatte, denn gegen 13 Uhr ging ich zum Bahnhof und fuhr wieder nach Hause.

Zufällig traf ich im Zug einen Nachbarn und Schulfreund, der seit einem Jahr am PI studierte.

Es war Gerhard Schaden, der ein paar Häuser entfernt von mir wohnte.

Er und sein älterer Bruder Hans waren mit ihren Eltern als Flüchtlinge nach Sulzfeld gekommen.

Sie waren oft bei uns zu Hause und schätzten die Leckereien meiner Mutter sehr.

In Bretten waren Gerhard und ich zwei Jahre zusammen in einer Klasse; durch meinen „Blackout“ in der Obersekunda wurden wir aber getrennt.

Während der zweistündigen Zugfahrt nach Sulzfeld beruhigte er mich und empfahl mir, einfach doch etwas abzuwarten.

Was ich auch tat.

Ich fuhr als am nächsten Tag wieder nach Karlsruhe und erlebte meine ersten Vorlesungen und Seminare.

Im Laufe der nächsten Wochen hellte sich alles auf, denn ich lernte einige Menschen kennen, die mich verstanden und mir halfen.

Da ich immer öfter – je nach Vorlesungsplan – spät nach Hause kam, mieteten wir in der Wilhelmstraße ein Zimmer.

Es war im 4.Stock, hatte kein fließendes Wasser, war im Sommer brütend heiß und im Winter lausig kalt, kostete aber auch nur 20 Mark im Monat.

Ich glaube, ich habe in den zwei Jahren keine fünfmal darin übernachtet.

Im Nachhinein kann ich eines feststellen:

Im Vergleich zu einem heutigen Studium – egal, welcher Art – waren es zwei entspannte, lockere und abwechslungsreiche Jahre.

Als wir vier nach einiger Zeit wussten, wie „der Hase so läuft“ am PI – ein Jahr später mutierte es zur Pädagogischen Hochschule (PH) – verschwanden wir morgens oft in „Auerbachs Keller“ und spielten stundenlang Skat.

Anfangs besuchten wir noch sporadisch manche Vorlesung, strichen aber dann auch diesen Punkt, da uns findige und fleißige Kommilitonen mit allen Unterlagen versorgten.

In den Seminaren attestierten wir uns manchmal gegenseitig den Besuch derselben.

Unterbrochen wurde dieses entspannte Leben nur einmal:

Im Januar 1962 hatte man mich zu einem sechswöchigen Praktikum in den Schwarzwald beordert, in eine kleine "Gesamtschule“ in Freiamt-Brettental, etwa 15 km nordöstlich von Emmendingen.

Mit dem Zug fuhr ich nach Emmendingen und dann mit dem Bus hinauf nach Freiamt; die letzten 3 km zu Fuß nach Brettental hinauf merkte ich, welches Gewicht mein Koffer doch hatte.

Es war bitterkalt, und die Schneehöhe dürfte bei knapp 1 Meter gewesen sein.

Ich stand dann vor einem Sägewerk, zwei Gasthäusern, einem Schulhaus und drei oder vier Wohnhäusern; auf den umliegenden Bergen waren einzelne Bauernhöfe sichtbar.

Lehrer Brunsch war alles andere als erfreut, als er mich an seiner Wohnungstür im Schulhaus empfing; ich vermutete, er empfand mich als „Störenfried“ in seiner Idylle, hatte aber erfreulicherweise in einem der gegenüberliegenden Gasthäuser bereits nach einem Zimmer für mich nachgefragt.

Als mich dann wenig später die Wirtin des Gasthauses „Zur Mühle“ in das für mich vorgesehene Zimmer führte, dachte ich, mich trifft der Schlag: das Fenster war dick mit Eisblumen bedeckt, und im Zimmer war es eisig kalt.

Sie murmelte etwas von „eingefroren“ und verschwand.      

Ich ging wieder hinunter und setzte mich an den molligen Kachelofen.

Sie brachte mir etwas zu essen und zu trinken und ließ dann durchblicken, dass sie nichts dagegen hätte, wenn ich diese Nacht am Kachelofen verbringen würde.

Als gegen 21 Uhr die zwei letzten Gäste die Gaststube verließen, nahm ich meine Bettdecke und das Kopfkissen und legte mich auf den Kachelofen.

Bis auf wenige Male war dies mein Schlafplatz in den vier Wochen in Brettental.

Von Herrn Brunsch habe ich viel gelernt.

Er unterrichtete die zwölf Kinder den Klassen fünf bis acht, alle gemeinsam in einem Raum.

Die ersten Tage saß ich im Hintergrund des Klassenraums und beobachtete das Geschehen vor mir.

Meine Aufgaben beschränkten sich in dieser Zeit auf das Bereitstellen von Holz und das morgendliche Anzünden des großen Ofens im Klassenzimmer.

Zu Beginn der zweiten Woche ließ er mir die Wahl zwischen einigen Unterrichtsprojekten, die im laufenden Schuljahr noch anstanden.

Ich entschied mich für Geografie und speziell für das Thema „Bodensee“.

Nach zwei Wochen war ich überrascht, welche Fülle dieses doch einfache Thema an Ergebnissen und Erkenntnissen brachte.                                                                                                 

Es waren fruchtbare und für mich erkenntnisreiche sechs Wochen in einer heute unvorstellbaren pädagogischen „Idylle“.

Der heute dominierende und oft übermächtige Begriff „Disziplin“ war nicht existent, hatte keinerlei Bedeutung. Es gab einfach keinen Anlass, ihn zu bemühen.

 

Anmerkung: Mit meinem „Busle“ bin ich schon einige Male nach Brettental gefahren und habe neben dem Schulhaus übernachtet. Dabei habe ich erfahren, dass Herr Brunsch in Freiburg lebt und oft nach Brettental zum Wandern kommt.

 

Januar und Februar 1963 schwitzten wir vier dann über unseren Klausurarbeiten.

Als wir im Februar 1963 dann die ersten Ergebnisse erhielten und nahezu alle mit „mangelhaft“ oder schlechter zensiert waren, rechneten wir mit dem Schlimmsten.

So kam es dann auch, nur nicht für mich.

Wider Erwarten und zu meinem großen Erstaunen bestand ich das Erste Staatsexamen; meine drei Kumpel mussten in die „Strafrunde“ (ein Jahr später waren auch sie alle Lehrer).

Was hatte mich „gerettet“?

Die Zensuren für meine Zulassungsarbeit (1,6) und meine Lehrbefähigung (1,5).

Da sie bei der Gesamtbewertung 3fach gewichtet wurden, schufen sie den notwendigen Ausgleich zu den vielen „mangelhaft“ in den anderen Fächern.

 

Ich war also Lehrer.

Basta.

Trotz krummer Nase und Unsicherheit.

Trotzdem paradox:

Jemand, für den der Begriff "Schule" überwiegend mit negativen Attributen behaftet war, wollte den Großteil seines weiteren Lebens dieser Institution widmen.

Egal, jetzt war nichts mehr zu machen.

Doch, ich machte noch etwas.

Ich war bei unserem Abschiedstreffen in „Auerbachs Keller“ schon etwas „benebelt“, als ich Siegfried Kreiners Drängen nicht länger widerstehen konnte/wollte und die Teilnahmebestätigung an einer zweiwöchigen Skifreizeit in Adelboden unterschrieb.

Es wurden zwei sehr schöne Wochen.

 

- Baiersbronn -

 

Als ich aus der Schweiz zurückkam, lag der „Stellungsbefehl“ bereits vor, und so fuhr ich am 22.April 1963 – es war ein sonniger Montag – mit meinem kleinen BMW „Luxus“ früh am Morgen über Mühlacker, Pforzheim und Besenfeld hinauf nach Freudenstadt.

Um 10 Uhr trafen sich fünf angehende Pädagogen – darunter auch zwei Bekannte aus Karlsruhe – zur Vereidigung im Staatlichen Schulamt.

Zu was ich dort „ja“ sagte, weiß ich heute noch nicht, anscheinend war es einfach notwendig gewesen.

Der mir zugewiesene Dienstort war Baiersbronn; er war mir nicht bekannt.

Auf meiner Straßenkarte suchte ich den Weg und fuhr die 6 km in das – wie es sich bald herausstellen sollte – schmucke und reizvolle Schwarzwaldstädtchen hinunter.

Rektor Dr.Stäbler hatte mich schon erwartet und alles vorbereitet:

den Stundenplan, ein leeres liniertes DIN-A4-Heft, ein Holzlineal, einen Radiergummi und einen gespitzten Bleistift; dazu den geeigneten Bleispitzer.

Mein Dienst sollte am nächsten Tag um acht Uhr beginnen.

Die Sache mit den Utensilien kam mir etwas eigenartig vor, seine weiteren Ausführungen und Erläuterungen empfand ich aber als angebracht und sinnvoll.

Als er zum Schluss ganz nebenbei erwähnte, dass die 1.Klasse 32 Schüler umfasste, dachte ich zuerst, ich müsste mich verhört haben.

Auf meine Nachfrage bestätigte er aber, dass ich am nächsten Tag eine 1.Klasse zu übernehmen hätte.

Um meinen Schrecken – und etwas später meine Empörung – zu verstehen, muss man wissen, dass mein ganzes Studium auf die Oberstufe der Hauptschule konzentriert war.

Alle meine Unterrichtsversuche und Lehrproben fanden in siebten oder achten Klassen statt, nur die Prüfungslehrprobe hatte ich in einer ersten Klasse absolviert.

Didaktische und methodische Inhalte, die ich mir angeeignet hatte, bezogen sich nur auf Fächer der Oberstufe.

Ich erläuterte ihm alle diese Umstände und bat ihn, mir eine andere Klasse zuzuteilen, was er in einem sicher während seiner Wehrmachtszeit angeeigneten Offizierston strikt ablehnte.

Als um zwölf Uhr die Schulglocke ertönte, erhob er sich und verließ den Raum.

Ich setzte mich in mein Auto und fuhr wieder nach Freudenstadt hinauf, wo ich den Schulrat noch antraf.

Er hatte mehr Verständnis für meine Situation und wollte am Nachmittag mit Dr.Stäbler sprechen; ich sollte um 14 Uhr wieder in der Schule sein.

Als ich dann Stäblers Gesicht sah, war mir alles klar.

Ich fragte ihn noch, ob er mir wenigstens bei der Zimmersuche helfen oder einen Rat geben könnte, aber verwies mich nur auf das Rathaus.

Da ich seit der Abfahrt von zuhause nichts mehr gegessen hatte, ging ich ein kleines Café, und die Bedienung kam nach einiger Zeit mit einem Zettel, auf dem sie zwei potentielle Vermieter notiert hatte.

Gegen 18 Uhr bezog ich dann ein kleines Zimmer im Reuteweg, etwa 2 km außerhalb von Baiersbronn in Richtung Freudenstadt.

Frau Mahler war eine sympathische Frau und wollte 20 DM im Monat.

Obwohl ich eine der von meiner Mutter eingepackten Rotweinflaschen leerte, fand ich kaum Schlaf in dieser Nacht; ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was mich am nächsten Tag erwarten würde und wie ich alles bewerkstelligen sollte.

An Details kann ich mich nicht mehr erinnern, nur, dass das Klas-  senzimmer gefüllt war mit Kindern, Eltern und Großeltern und dass ich am Pult stand und etwas sagte.

Was, weiß ich nicht mehr, auch nicht, ob ich dann die Erwachsenen hinausgeschickt habe oder wie lange die Kinder geblieben sind.

Drei Tage vor Beginn der Sommerferien 1963 wurde ich krank; die Mandeln mussten raus.

Im Krankenhaus in Karlsruhe bekam ich dann einen erstaunlichen Brief der Kollegin Schulze; sie hatte die Klasse noch die drei restlichen Tage betreut.

Sie drückte darin ihre Verwunderung über ihre Feststellung aus, dass alle Kinder bis auf einen Jungen lesen und schreiben konnten.

Ich wusste, dass die Kinder ab Mitte Juli unbekannte Wörter und Sätze lesen konnten, hatte aber keine Ahnung bzw. Erfahrung, dass die Erlangung dieser Fähigkeit im Zeitraum von 3 Monaten ungewöhnlich sei.

Über den Weg und die Methode zu diesem Leistungsstand möchte ich mich hier nicht auslassen, denn es würden sich sicher manchem Grundschuldidaktiker die Haare sträuben.

Aber was hätte ich machen sollen?

Die PH war weit weg und geeignete Literatur gab es an der Schule nicht.

Also bastelte ich mir mein eigenes Lernsystem zusammen, sicher beeinflusst von den Methoden, wie ich selbst Lesen und Schreiben gelernt hatte.

Dass dieses System erfolgreich war, war zum größten Teil der heute unvorstellbaren Disziplin und Geduld der Kinder geschuldet.

Wir zerlegten stundenlang Silben, Wörter und später ganze Sätze und bauten sie dann wieder zusammen - akustisch und optisch, immer wieder aufgelockert und unterbrochen von Spielen und Liedern.

Was mich heute noch aufregt:

Weder dieser "Eisschrank" Stäbler noch irgendein Schulrat aus dem 6 km entfernten Freudenstadt ließen sich ein einziges Mal bei mir blicken oder erkundigten sich danach, was ich jeden Tag so trieb, und das, obwohl sie alle wussten, wie fremd mir diese Stufe mit ihren Anforderungen war.

Wie dem auch sei, nach den Sommerferien wurden die Kinder immer besser und sicherer, so dass ich im September manchmal Vorlesewettbewerbe veranstaltete, an denen sie begeistert teilnahmen.

In der Zwischenzeit hatte sich auch ein umfangreicher Fundus an Sprach- und Rechenkärtchen angesammelt, so dass ich nicht mehr jeden Nachmittag Stunden mit deren Herstellung verbringen musste.

Durch die so gewonnene Freizeit entdeckte ich erst jetzt, in welchem schönen Flecken ich hier gelandet war.

Im September und Oktober erwanderte ich die herrliche Umgebung von Baiersbronn, Mittel-und Obertal.

Am Mittwochnachmittag fuhr ich meistens nach Tonbach in die damals noch urige "Traube" zum Kurkonzert; der Freitagabend war dem Faustball in der Schwarzwaldhalle vorbehalten.

In den ersten Dezembertagen 1963 brach ein Winter an, den die Leute lange nicht vergessen sollten.

Bis weit in den März lag der Schnee teilweise meterhoch, und es war bitterkalt.

Dass meine Pendelfahrten nach Sulzfeld übers Wochenende schadenfrei verliefen, kommt mir heute noch wie ein Wunder vor, vor allem, weil mein „BMWle“ nur mit Sommerreifen ausgerüstet war.

Nach den Weihnachtsferien war die Schule noch einmal für zwei Wochen geschlossen, denn in Baiersbronn wurden die Nordischen Skimeisterschaften ausgetragen; sie umfassten Langläufe und Skispringen. Letzteres wurde auf der Alexanderschanze am Ruhestein ausgetragen.

Auf dem Bewertungsturm neben der Schanze hatte ich zwei Tage lang meinen "Arbeitsplatz": ich musste die Bewertungszettel der fünf Sprungrichter einsammeln, die niedrigste und höchste Zahl streichen und aus den drei restlichen den Durchschnitt ermitteln. Ein Taschenrechner wäre dabei sehr hilfreich gewesen; den gab es damals aber leider noch nicht.

Für zwei Wochen zusätzlichen Ferien trotzdem eine erträgliche Arbeit!

Der Star dieser Veranstaltung war natürlich Georg Thoma, der Olympiasieger von 1960 in Squaw Valley.

Es lief also alles bestens für mich in Baiersbronn, ich fühlte mich wohl dort und hatte mich eingelebt- und trotzdem reichte ich Mitte März meinen Versetzungsantrag ein; was mich letztendlich dazu bewogen hatte, weiß ich nicht mehr.

 

Seit ich mich meinem Campingbus unterwegs bin, vergeht kein Jahr, in dem ich nicht mindestens einmal in Baiersbronn beim Schwimmbad oder am Sankenbach übernachte.

               

- Untergrombach und Bretten -

 

Meinem Versetzungswunsch wurde stattgegeben, mein Ortswunsch aber verworfen.

So fuhr ich Ende April 1964 mit dem neu erworbenen Opel Rekord zu meinem ersten Unterrichtstag nach Untergrombach und übernahm dort eine vierte Klasse.

Im Vergleich zu dem konservativen und etwas prüden Baiersbronn waren die Untergrombacher ganz anders – Kinder und Erwachsene: fröhlicher, offener, direkter, sie nahmen alles etwas leichter.

Es gefiel mir dort, und ich hatte mit den 36 Buben und Mädchen ein angenehmes Jahr.

Das Lästigste waren die Fahrten, ob mit Auto oder auf der Schiene.

Ich vermute, dass dieser Faktor auch die eigentliche Ursache für meinen erneuten Veränderungswunsch war, sodass ich ab April 1965 an der Schillerschule in Bretten eine 5.Klasse übernahm; es waren alles Mädchen.

Es zeigte sich bald, dass wir ausgezeichnet harmonierten, und so verbrachten wir eineinhalb tolle Jahre miteinander.

Der Höhepunkt war mein Geburtstag im September, als sie es schafften, den mürrischen und grantigen Hausmeister Kleiber irgendwie zu bewegen, dass er sie vor Unterrichtsbeginn in das Gebäude ließ.

Als ich das Zimmer betrat, standen sie alle auf und sangen ein Lied, und erst etwas später merkte ich, dass mein Tisch mit Blumen überhäuft war; auch auf jeder Bank stand ein kleiner Blumenstrauß.

Warum nur eineinhalb Jahre?

Einige Länder in der BRD hatten 1964 beschlossen, den Schuljahreswechsel auf den Herbst zu verlegen, wozu natürlich zwei Kurzschuljahre notwendig wurden.

Trotz großer Proteste in ganz Deutschland wurde diese Maßnahme durchgesetzt, sodass für die Kinder ihre 7.Klasse am 30.November 1966 zu Ende war, und sie vom 1.Dezember 1966 bis zum 31.Juli 1967 die 8.Klasse absolvierten.

Für diese Zeit von Dezember 1966 bis Juli 1967 waren weitere einschneidende Maßnahmen notwendig geworden: in einem autoritären Verwaltungsakt, dessen Sinn bzw. Unsinn uns niemand erklären konnte oder wollte, wurden einige Mädchen aus der Klasse genommen und die freien Plätze nahmen Buben ein.

Da die Schulraumnot immer prekärer wurde, wies man uns einen notdürftig ausgestatteten Saal im Obergeschoss der alten Turnhalle neben dem Melanchthongymnasium zu. Ohne Handschuhe, Mäntel und Decken hätten wir den Winter kaum überstanden.

Ich hatte die nun gemischte Klasse im Dezember 1966 übernommen und unterrichtete sie bis zum Ende des 8.Schuljahres (Juli 1967).

Nach einem etwas holprigen Beginn bahnte sich aber zu Beginn des Jahres 1967 eine fruchtbare und angenehme Zusammenarbeit an, die durch nichts Negatives beeinträchtigt wurde.

Ich freute mich auf jeden Schultag in Bretten.

Durch die zur Jahreswende 1964-65 beschlossene Bildungsreform in Baden-Württemberg wurde aus der Volksschule eine Hauptschule; die signifikanteste Änderung bestand darin, dass die gesamte Schulzeit jetzt neun Schuljahre umfasste.

Ich ging noch im Juli 1967 fest davon aus, dass ich meine Klasse auch im 9.Schuljahr unterrichten würde; es gab keinen Grund für einen Wechsel.

Als aber Rektor Dörr in der Abschlusskonferenz die geplante Klassenverteilung für das Schuljahr 1967-68 bekannt gab, glaubte ich zunächst, meinen Ohren nicht zu trauen, denn seinen Ausführungen nach sollte Kollege Rogausch meine Klasse übernehmen.

Sofort nach Konferenzende suchte ich das Gespräch mit ihm, und er begründete seine Maßnahme mit Argumenten, deren Glaubwürdigkeit sich mir völlig verschloss.

Ich vermute heute, dass es seinerseits ein humanitärer Akt gegenüber dem etwas gesundheitlich angeschlagenen Kollegen war; die Klasse galt in jeder Hinsicht als vorbildlich, so dass Dörr Probleme, sprich: Vertretungen, durch seinen Akt mit einiger Sicherheit ausschließen konnte.

Was tat ich?

Möglicherweise das Falsche, denn die zwei Jahre in Bretten waren äußerst angenehm gewesen, Umfeld, Schüler und Kollegium betreffend.

Ich fühlte mich wohl dort, empfand aber die Zurücksetzung als Affront, der meine persönliche Integrität verletzte, so dass ich zum Schulamt nach Karlsruhe fuhr und um meine Versetzung nach Mühlbach bat; ich hatte erfahren, dass dort ein Kollege die Schule verlassen hatte.

Der Schulrat machte mir wenig Hoffnung, vor allem auch deshalb nicht, weil mit der Versetzung nicht nur ein Ortswechsel, sondern auch ein Wechsel des Regierungsbezirks verbunden wäre.

 

- Mühlbach -

 

Umso überraschter war ich, als Anfang September 1967 meine Versetzung in unseren Nachbarort Mühlbach eintraf, so dass ich mich zu Beginn des neuen Schuljahres in dem Steinhauerdorf vor 42 Fünftklässlern wiederfand.

Zu diesem Zeitpunkt hätten wir nicht geahnt, dass wir fünf Jahre miteinander auskommen mussten, aber dem war so, denn im Zuge der Schulreform wurde die Oberstufe der Volksschule Mühlbach im Herbst 1968 nach Eppingen abgeordnet, und man wollte den Kindern zu all dem Neuen, das dieser Umzug mit sich brachte, nicht noch durch den eigentlich notwendigen Lehrer- wechsel ein fremdes und unbekanntes Gesicht zumuten.

Es wurden ereignisreiche fünf Jahre.

Da für mich auch alles zum ersten Mal war, alles neu war, packte ich die Projekte und Vorhaben mit großem Engagement und einer gespannten Neugierde an.

Es würde einen zu großen Raum beanspruchen, alle Aktivitäten hier aufzuführen, deshalb in Umrissen nur kurz die Markantesten:

Unser erster Ausflug führte uns mit dem Bus über Pforzheim, Besenfeld und Baiersbronn hinauf zum Ruhestein.

Nach einer Vesperpause erklommen wir diesen Berg und wanderten am Wildsee vorbei – einige ließen es sich nicht nehmen und kletterten zu ihm hinunter – zur Darmstädter Hütte.

Weiter ging es dann hinunter zum Seibelseckle und wieder hinauf zum Mummelsee und mit dem Bus über Karlsruhe zurück.

Da bis 1969 noch niemand unserer Schule im Schullandheim gewesen war, wollten wir die Ersten sein, die ein solches Unternehmen in Angriff nahmen.

Ab Anfang des Jahres 1970 konnte jedes Kind samstags in der letzten Stunde einen selbst bestimmten Geldbetrag bei mir einbezahlen; der Einzahler bestätigte den Betrag durch seine Unterschrift.

Im März desselben Jahres lieh ich mir einen Traktor, und wir sammelten in Eppingen an zwei Regensamstagen von morgens bis abends Altpapier, das wir in einen Container der Firma Stuhlmüller aus Richen verfrachteten; er stand auf dem Reitplatz.

Dasselbe wiederholte sich einige Wochen später in Mühlbach und Adelshofen (aus diesen Teilgemeinden kamen die Kinder).

Etwa 400 Mark kamen dabei zusammen.

Weitere 300 Mark kamen durch Einsammeln von Alteisen in die Kasse, wiederum mit einem geliehenen Traktorengespann, und ergänzt wurde unser doch schon angeschwollenes Sparschwein durch Spenden der größeren Firmen und Banken in Eppingen, die ich angeschrieben hatte.

Da damals noch jedes Kind vom Landkreis Heilbronn, von der Zentralgemeinde und seiner Heimatgemeinde mit je einer Mark pro Tag unterstützt wurde, hatten sich Ende Juli 1970 über 12000 DM auf unserem Sparbuch angesammelt.

Blieb nur noch die Frage:

Wo geben wir dieses Geld denn aus?

Außer einem Jugendherbergsverzeichnis von Deutschland hatte ich nichts auftreiben können; daneben gab es neben ein paar Naturfreundehäusern eben nichts.

Die potentiellen Zielorte bewegten sich von der Nordsee über den Bayrischen Wald und dem bayrischen Alpenraum bis zum Bodensee und dem Schwarzwald.

Mit meinem Campingbus war ich in den Pfingstferien 1970 zusammen mit vier Kindern auf Besichtigungstour durch den Schwarzwald und am Rhein entlang wieder zurück.

Das Rennen machte schließlich die Jugendherberge in der Bruderhalde am Titisee.

In ihr wollten wir zwei Wochen verbringen.

Am 12.September, einem sonnigen Samstag, trafen sich also 39 Kinder und ihr Lehrer am Bahnhof in Eppingen und fuhren mit dem Zug nach Karlsruhe, von wo es dann mit der „Schwarzwaldbahn“ über Offenburg, Wolfach, Hornberg, Triberg und St.Georgen nach Donaueschingen ging.

Den kurzen Aufenthalt nutzten wir für den Besuch der Donauquelle.

Gegen 15 Uhr kamen wir am Bahnhof in Titisee an, und nachdem alle Koffer und Taschen auf einem Bauernwagen verstaut waren, machten wir uns zu Fuß über den Waldweg auf den Weg zur Jugendherberge.

Ich kann mich noch erinnern, dass die Kinder so aufgeregt und gespannt waren auf das, was sie in Kürze erwartete, dass sie den tiefblauen See und die schöne Landschaft überhaupt nicht wahrnahmen, obwohl ich sie immer wieder darauf hinwies.

Ich hatte selbst ein mulmiges Gefühl, denn es war meine erste Fahrt in ein Schullandheim, aber es verlief alles glatt,  und nach einer Stunde waren alle untergebracht.

Der Leiter der JH, Herr Herr - so hieß er wirklich -  unterrichtete mich über alles Wissenswerte und unternahm mit mir dann einen kleinen Rundgang durch das alte Gebäude.

Da wir die nächsten zwei Wochen seine einzigen Gäste waren, konnten wir alle Räumlichkeiten für unsere Zwecke nutzen.

 

Vor dem Abendessen versammelte ich die Kinder im Aufenthaltsraum, informierte sie über alles, was sie wissen mussten und verteilte die Aufgaben für die nächsten drei Tage (Tisch decken, Essen auf- und abtragen, abspülen, ausfegen, etc.).

Nach dem Essen machten wir noch eine kleine Wanderung runter zum See.

Am nächsten Tag - einem Sonntag - wurden in der kleinen Kirche in Titisee die Stühle knapp.

Inzwischen war auch meine Frau mit unserem Auto eingetroffen; trotz ihrer Schwangerschaft hatte sie es nicht nehmen lassen, als Begleitperson an dem Aufenthalt teilzunehmen.

Was ist noch präsent von diesen 14 Tagen im Schwarzwald?

Über die gesamte Zeit schien die Sonne, sodass wir immer wieder zum Schwimmen an den See gingen.

Die meisten Tage unserer Tage waren von ausgedehnten Wanderungen ausgefüllt.

So marschierten wir von der JH hinauf zum Gipfel des Feldberges, dann steil hinunter zum Feldsee und über den Raimartihof den weiten Weg zurück zur JH, insgesamt weit über 20 km.

An einem weiteren Tag liefen wir nach Bärental, nahmen dann den Zug bis Aha am Schluchsee und wanderten anschließend um den gesamten See herum wieder zurück nach Aha, nur unterbrochen von einer einstündigen Rast am Unterkrummenhof.

Mit dem Zug ging es dann wieder nach Bärental und zu Fuß über Erlenbruck zurück zur JH.

Als anstrengend und recht schwierig erwies sich unsere Wanderung zum Hochfirst mit seinen knapp 1200 m.

An zwei Vormittagen blieben wir in der JH und beschäftigten uns mit der Geschichte und der Geografie des Schwarzwaldes.

Zwei Tage vor Ende unseres unvergesslichen Aufenthalts am Titisee fuhren wir mit einem Bus über Bonndorf zum Rheinfall von Schaffhausen in die Schweiz; für viele war dies einer der schönsten Tage.

Nicht nur empfanden sie die stürzenden Wassermassen des Rheins als sehr beeindruckend, vor allem genossen sie es, dass sie sich an diesem Tag nicht viele Kilometer durch den Schwarzwald mühen mussten und endlich einmal einen ruhigen Tag genießen konnten.

Einmal geht auch die schönste Zeit vorbei, und so holte uns der Bauer-Bus am 26.9.1970 wieder ab; um die Mittagszeit waren wir alle wieder unversehrt und voll mit vielen unvergesslichen Eindrücken im Kraichgau angekommen.

(Dieser Schullandheimaufenthalt war mein erster mit einer Klasse und der Startschuss zu 20 weiteren).

Die Basis zum nächsten war durch unseren großen finanziellen Überschuss bereits wieder gelegt:

Wir waren mit über 12000 DM zum Titisee gefahren, hatten aber nur insgesamt 5300 DM verbraucht (Vollpension in der JH: 5,30 DM/Tag/Kind).

So machten wir bald Pläne, welche neuen Ziele wir ansteuern sollten., hatten aber zunächst noch einige andere Exkursionen vor uns.

Zwei Tage vor den Weihnachtsferien besuchten wir eine Sitzung des Landtags in Stuttgart und nutzten den anschließenden Stadtbummel, um noch notwendige Utensilien für unseren Schullandheimaufenthalt in Südtirol einzukaufen.

Richtig verstanden.

Unsere prall gefüllte Klassenkasse erzwang geradezu neue „Abenteuer“, und ich hatte wochenlange Vorbereitungen für einen Skiaufenthalt in Südtirol hinter mir.

Nur zwei der Kinder besaßen eigene Skier, und es schien zunächst ein aussichtsloses Unterfangen zu sein, dass 39 „Landratten“ in die Berge zum Skilaufen fahren würden, aber mein anfangs mit großer Skepsis aufgenommener Plan setzte sich allmählich umso mehr durch, desto detaillierter die Informationen waren, die ich den Eltern vorlegen konnte.

Ende November 1971 waren alle Kinder mit mehr oder minder tauglichen Skiern versorgt; wir hatten dazu die verschiedensten „Quellen“ angezapft.

Und dann war es tatsächlich so weit:

Am 25.Januar 1972 (einem sonnigen Samstag) startete wiederum „Charly“ mit einem bis an seine Grenzen beladenen Bauer-Bus und brachte seine – mit der Dauer der Fahrt immer ungeduldiger werdende Fracht – über Stuttgart, Ulm, Augsburg, München (Besuch des Olympiageländes mit Auffahrt zum Olympiaturm), Garmisch-Partenkirchen (Besuch der Olympiaschanze) – Mittenwald – Innsbruck – Brennerpass – Sterzing – Franzensfeste – Einfahrt ins Pustertal – St.Lorenzen und dann endlich hinauf nach St.Stefansdorf; dort quartierten wir uns im „Mair-Hof“ ein.

Um noch einen Teil des üppig vorhandenen Adrenalins abzubauen, unternahmen wir nach dem Abendessen eine ausgedehnte Wanderung durch das tief verschneite, kleine und wie ausgestorben wirkende Dorf.

Da meine eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten in der Fortbewegung auf zwei Brettern äußerst bescheiden waren – nach dem Krieg sind wir auf „Fassdauben“ durch die Hügel Sulzfelds gestapft, in Baiersbronn hatte ich mir Morlock-Skier gekauft und war mit ihnen in Mitteltal einige Male herumgekurvt - hatte ich mir Literatur besorgt, um meine Unterweisungen etwas untermauern zu können.

So versuchte ich die nächsten vier Tage, den Kindern auf den Hügeln rund um den „Mair-Hof“ in groben Zügen die Grundkenntnisse und einfachen Fähigkeiten dieser Sportart beizubringen.

Als dann alle einigermaßen „Stemmbogen“ und „Schneepflug“ beherrschten, hielt ich die Zeit für gekommen, das Gelernte am nahen „Kronplatz“ zu testen und evtl. Neues auszuprobieren.

Es war sehr kalt, als wir am Donnerstag in der ersten Woche nach dem Frühstück die 1200 m hinüber zur Talstation der Kronplatz-Kabinenbahn auf den Skiern zurücklegten; Schnee gab es massenhaft.

Ich kaufte Karten für den etwa 300 m langen Korer-Schlepplift neben der Seilbahn, und es dauerte kein 10 Minuten, bis die ersten Wagemutigen mit hohem Tempo und großem Geschrei den Abhang heruntersausten.

Gegen 13 Uhr machte sich meine Kollegin, Frau Burkert, mit einem kleineren Teil der Klasse auf den Rückweg, während die anderen auch um 17 Uhr schwer zu bewegen waren, das Gelände zu verlassen.

Meinen Plan, am nächsten Tag zum Kronplatz hochzufahren, musste ich aufgeben, denn beim Frühstück wurde mir klar, dass die ganze Bande völlig erschöpft war.

Sie trieben sich dann am nächsten Tag mit ihren Skiern in der Umgebung herum oder hielten sich im Haus auf.

Am Samstag wanderten wir im Tiefschnee die 4 km nach Bruneck hinunter und schauten uns den Film „Doktor Schiwago“ an; der Verbrauch an Taschentüchern war enorm.

Am Montagmorgen konnte dann das Abenteuer „Kronplatz“ beginnen.

Schon während der Auffahrt mit der Seilbahn zum Kronplatz hinauf kamen die meisten aus dem Staunen nicht heraus, war es doch das erste Mal, dass sie so etwas erlebten.

Dieses Staunen setzte sich auf dem Gipfelplateau fort, denn der an diesem herrlichen Sonnentag gebotene Rundblick über die glitzernde Bergwelt war einfach überwältigend.

Wir fuhren zusammen etappenweise den nicht allzu steilen Südabhang des Kronplatzes hinunter und beobachteten dann noch zusammen einige Zeit das Verhalten an einem Schlepplift. Als der Letzte dann am Bügel hing, fuhr auch ich hinterher.

Diese Prozedur wiederholten wir nochmals, dann gab ich ihnen zwei Stunden Zeit, die sie an diesem Südhang verbringen konnten/mussten; er war übersichtlich, und ich hatte sie im Auge.

Manche hatten bald genug vom Skifahren und legten sich oben in die Sonne.

Gegen 16 Uhr fuhren wir wieder mit der Seilbahn hinunter, da mir der Nordhang für eine Talfahrt etwas zu riskant erschien, und viele der Kinder konditionell nicht mehr in bester Verfassung waren.

Die vier Tage bis zur Heimfahrt verbrachten wir bei herrlichem Wetter und bestem Schnee auf dem Kronplatz, die Talfahrt über den Nordhang schafften bereits am Dienstag die meisten, und sie war dann stets der Höhepunkt des Tages.

Manchmal blieb mir beinahe das Herz stehen beim Anblick der „Verrücktesten“, und ich war immer heilfroh, wenn ich sie alle gesund wieder zum „Mair-Hof“ gebracht hatte.

Nach der letzten Abfahrt am Freitag setzte heftiges Schneetreiben ein, und der gegen 18 Uhr eintreffende „Charly“ war nicht sicher, ob es mit der morgigen Heimfahrt klappen würde.

Bis nach Mitternacht wurde Abschied gefeiert, und am nächsten Morgen machte sich eine müde Gruppe und ein etwas angeschlagener Fahrer auf den langen Heimweg.

Erst am späten Abend kamen wir wieder müde, aber gesund im Kraichgau an; niemand war krank geworden oder hatte sich verletzt, alle brachten nur schöne Erinnerungen an schöne Tage mit nach Hause.

Im Februar begannen dann die Vorarbeiten für die im Zuge der Schulreform erstmalig abzulegende „Hauptschulabschlussprüfung“.

Da auch Fertigkeiten in einem musischen Bereich gefordert wurden, besorgte ich für Dreiviertel der Klasse Blockflöten und unterwies sie zunächst im Notenlesen, bis wir dann die ersten einfachen Liedchen einüben konnten.

Es müssen etwa zehn Kinder gewesen sein – darunter mehrere Jungen – die in Musik die Prüfung absolvierten; niemand fiel durch.

Neben den geschilderten Unternehmungen haben wir in den fünf Jahren noch viele Wanderungen, Radtouren, Schlittenfahrten, Schwimmbad-und Museumsbesuche und andere Projekte durchgeführt.

Ein sehr schöner Ausflug war die Fahrt mit dem Zug nach Neckargemünd, die Wanderung hinüber nach Neckarsteinach und dann die Schifffahrt nach Heidelberg.

Nach der Stadtbesichtigung ging es mit der Bergbahn zunächst zum Schloss und dann hinauf zum Königstuhl.

Von dort war es dann ein langer Marsch hinunter nach Bammental, wo uns der Bauer-Bus abholte.

Mit die härteste Tour war die Wanderung über Sternenfels zum Kloster nach Maulbronn und wieder zurück (knapp 30 km).

Als ein paar Jahre später ein Junge bei derselben Wanderung gesundheitliche Probleme bekam, verzichtete ich auf diese Gewaltmärsche und modifizierte den Besuch des Klosters dahingehend, dass wir mit dem Zug nach Gölshausen fuhren, durch den Wald nach Maulbronn marschierten und uns dann von einem Bus am Tiefen See abholen ließen.

- Eppingen -

Wenn ich auf die 31 Jahre in Eppingen zurückschaue, sehe ich zwei völlig konträre Seiten einer Medaille: einerseits tauchen da schöne Bilder mit unvergesslichen Unternehmungen und Erlebnissen mit Kindern und einem tollen Kollegium auf, andererseits verdunkelt der Schatten eines überforderten und autoritären Schulleiters 11 Jahre meines Lebens an dieser Schule.

Zum Glück konnten seine Nachfolger vieles kompensieren und ermöglichten so ein wesentlich stressfreieres Arbeiten und Unterrichten.

Mit einer Ausnahme war ich immer Klassenlehrer in den oberen Klassen, in der Regel sieben bis neun. Ich unterrichtete immer die Kinder aus der Zentralstadt; die Schüler aus den Nachbardörfern galten als „pflegeleichter“.

Meine außerschulischen Unternehmungen mit den Kindern nahmen im Laufe der Zeit noch zu.

Wenn in den Klassen 7 und 8 nähere Ziele im Vordergrund standen - Kloster Maulbronn, Heidelberg und sein Schloss, der nördliche Schwarzwald, Karlsruhe, Schleuse in Heilbronn, Tripsdrill, viele Ausflüge und Wanderungen in der Peripherie Eppingens, Betriebsbesichtigungen und vieles andere - waren in den Abschlussklassen anspruchsvollere Exkursionen obligatorisch.

Im Laufe des Schuljahres 1971-72 hatte ich von irgendwo her die Information erhalten, dass die Kosten für einen Besuch des Landtages in Stuttgart und des Bundestages in Bonn - später in Berlin - zum größten Teil vom Land bzw. Bund übernommen werden.

Nachdem sich diese Information bewahrheitet hatte, machte ich mich sofort an die Planungen, und bereits Anfang Januar 1972 saßen etwa 40 Kinder der 9c auf den Zuschauerbänken des Landtages in Stuttgart; nach einer Diskussion mit Minister Leibfried mit einem Imbiss und einem Besuch des Fernsehturms, nutzten viele Kinder - und der Lehrer - den Gang durch Stuttgarter Innenstadt, um noch einige Utensilien für den acht Tage später anberaumten Schullandheim in Südtirol zu besorgen.

Im Juli 1972 besuchten wir eine Sitzung des Bundestages in Bonn (übernachtet hatten wir in der Jugendherberge in Köln-Godesberg).

Für die Rückfahrt hatte ich die Route auf Grund des herrlichen Wetters spontan etwas verändert, sodass wir in Koblenz ein Rheinschiff bestiegen und durch den möglicherweise schönsten Teil des Rheins bis nach Rüdesheim hinunterfuhren.

Dort erwartete uns bereits „Charly“ mit seinem Bus, und wir fuhren über Worms, Mannheim und Speyer wieder zurück in den Kraichgau.

Es waren drei schöne und erlebnisreiche Tage gewesen.

(Bei späteren Fahrten zum Bundestag nach Bonn – die für uns ebenso wie die Besuche des Landtags in Stuttgart und später des Bundestags in Berlin alle kostenlos waren – fuhr ich bei der Rückfahrt über die Eifel und den Nürburgring).

Ein Erlebnis der besonderen Art war die Fahrt durch die DDR und der Besuch einer Bundestagssitzung in Berlin, sowie der am nächsten Tag erfolgende Grenzübertritt nach Ostberlin.

Auch 40 Jahre später löst die Erinnerung daran noch die zwiespältigsten Gefühle aus; ich denke, das Positive überwog, aber es waren jeweils vier Tage, geprägt von einem Gefühl der Unsicherheit und einer gespannten Erwartung. Man wusste einfach nicht, ob doch noch etwas passieren würde.

Eine Episode möchte ich noch gerne anführen:

Nach der Einfahrt in die DDR bei Plauen durfte man die Transitautobahn bis Berlin nirgends verlassen; nur an einigen speziellen Autobahnraststätten konnte man eine Pause einlegen.

Nachdem wir nach einer kurzen Pause die Raststätte Willsdruff bei Dresden wieder verlassen hatten, bemerkte ich kurz vor Berlin, dass meine braune Umhängetasche fehlte; ich musste sie in der Raststätte vergessen haben, mit allen Unterlagen und etwa 8000 Mark darin.

Zum Glück hatte ich vor dem Grenzübertritt alle Pässe und Personalausweise ausgeteilt, sodass wir ohne Probleme nach West-Berlin einreisen konnten; den abgelaufenen Pass meiner Frau hatte der Beamte übersehen.

Die telefonische Nachfrage in Willsdruff erwies sich als äußerst kompliziert, denn erst über das westdeutsche Auswärtige Amt musste in Ost-Berlin um die Erlaubnis für einen dortigen Anruf nachgefragt werden.

Als mir dieser Rückruf gegen Mitternacht gestattet wurde, war ich über die erhaltene Nachricht mehr als erleichtert: Die Tasche hatte man gefunden und wollte sie bis zu unserer Rückfahrt aufbewahren.

Mit Hilfe der Scheckkarte meiner Frau besorgten wir uns das notwendige Bargeld, sodass wir alle geplanten Unternehmungen durchführen konnten, darunter auch einen ganztägigen Besuch Ost-Berlins.

Auf der Rückfahrt gab es natürlich nur ein Thema: bekomme ich die Tasche wieder?

In der Raststätte bat man mich in das in einem Seitentrakt befindliche Büro der VOPO, und schon beim Eintritt sah ich sie  auf dem Tisch liegen; eine kurze Überprüfung ergab eine völlige Unversehrtheit der Tasche mitsamt ihres Inhalts.

Ich entnahm ihr zwei Einhundertmarkscheine und wollte sie den Beamten mit den entsprechenden Dankesworten überreichen, was sie aber entrüstet ablehnten.

Als ich in den Bus einsteigen wollte, stand wie zufällig einer der Beamten neben dem Aufgang, und ohne Zögern nahm er das Geld entgegen; ich vermute, dass der offizielle Übergabeakt im Büro - in der Anwesenheit weiterer Beamter - gegen einschlägige Gesetze verstoßen hätte. Ob der Beamte das Geld für sich behielt oder nachher unter die anderen Beamten aufteilte, ist irrelevant; ihr Verhalten in Bezug auf die gesamte Angelegenheit der Sache mit der vergessenen Tasche hat mich äußerst positiv überrascht.

 

Ich möchte zum Schluss noch kurz zwei Unternehmungen anführen, die in der Art ihrer Durchführung doch etwas aus dem Rahmen fielen.

Zum ersten war es eine Fahrt mit der 9c von Herrn Fischer nach Saalbach-Hinterglemm in den Osterferien 1974.

Ob der Schulleiter ihm die Fahrt verwehrte, oder ob der kurz vor der Pension stehende Kollege Fischer   dem Wunsch der Klasse nicht entsprach, weiß ich heute nicht mehr.

Als mich einige Tage später die Klassensprecher während einer Hofaufsicht fragten, ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen ins Schullandheim zu fahren, sagte ich spontan zu; ich kannte die Klasse, alle Kinder waren aus Mühlbach und Adelshofen; potentielle Probleme tendierten somit gegen Null.

Als ich nach Schulschluss im Rektorat mein Anliegen vortrug, erfuhr ich eine rüde Abfuhr, was mich wenig überraschte; Argumente wurden nicht für nötig gehalten.

Ich machte der Klasse dann den Vorschlag, den Aufenthalt in den kommenden Osterferien durchzuführen.

Zwei Tage später erklärten sie mir, dass bis auf zwei Mädchen alle einverstanden seien.

In einer kurzfristig anberaumten Versammlung informierte ich die Kinder und ihre Eltern in der „Talschenke“ über die Details des geplanten Vorhabens und vor allem darüber, dass es sich um keine schulische Veranstaltung handelte und damit jeglicher Versicherungsschutz wegfiele; auch meine Funktion als Lehrer und somit der gesetzlichen Aufsichtspflicht Verpflichtender sei nicht gegeben, sie hätten demgemäß meinen Anordnungen nicht folgen müssen.

Ich hatte ein entsprechendes Schreiben vorbereitet und gab es ihnen mit nach Hause. Um eine notwendige Haftpflichtversicherung hatte ich mich bereits im Vorfeld gekümmert; die Kosten in Höhe von 147 DM würden wir uns teilen.

Etwa drei Wochen vor den Osterferien hatte ich alle beglaubigten Schriftstücke in meinem Ordner und konnte mich daran machen, nach einem geeigneten Ziel zu suchen, was nicht ganz einfach war; mit den heutigen „Hilfsmitten“ - sprich Medien/Internet - ein Klacks.

Nachdem ich ein Heim in Saalbach-Hinterglemm gefunden hatte, nach drei informellen Zusammenkünften und nachdem der „Bauer-Bus“ organisiert war, starteten  früh am 15.April 1974 - es war Ostermontag - 32 Kinder und meine Familie (unsere dreijährige Tochter war auch dabei) gen Süden und erreichten - nach einem Besuch des Olympiastadions in München - am späten Nachmittag unser Ziel, wo wir zwei abwechslungsreiche und unterhaltsame Wochen miteinander verbrachten; meine positive Einschätzung der Kinder war voll eingetroffen.

Weitere etwas ungewöhnliche Aktionen waren die drei Besuche der britischen Hauptstadt, die wir teils mit dem Zug, ein andermal mit dem Flugzeug erreichten.

Das erste Projekt wurde von einem Reisebüro organisiert (Flug, drei Übernachtungen für 199 DM).

Dementsprechend billig war auch alles: im Flug saßen wir in einer dröhnenden BAC-111 - manche von Angesicht zu Angesicht - und untergebracht waren wir in einem nicht heizbaren, ehemaligen königlichen Pferdestall; aber diese Umstände spielten für die 69 Kinder und Jugendliche, von denen viele ihre Freunde aus anderen Schulen mitgebracht hatten, damals keine Rolle.

Es wurden vier unterhaltsame, erkenntnisreiche und spannende Tage, aber ich war trotzdem mehr als froh, als wir wieder alle gesund im Kraichgau gelandet waren, und ich nahm mir vor, beim nächsten Mal nicht ohne eine weitere Begleitperson nach London zu reisen.

Für den zweiten Besuch in London hatte ich irgendwie herausgefunden, dass freitags ein Jumbo Jet der „Singapore Airlines“ auf seinem Weg von Singapur nach London in Frankfurt zwischenlandete, und nachdem ich in einem Brief an das Frankfurter Büro der Airline mein Anliegen vorgetragen hatte, waren wir  

            Auf dem Flughafen Frankfurt               einige Zeit später im Besitz der äußerst günstigen Flugtickets; wie spekuliert, waren die Sitzplätze der riesigen 747 nur zu einem Bruchteil besetzt.  

Bei der Rückfahrt fuhren wir zunächst mit dem Zug nach Dover, überquerten mit dem Schiff den Kanal und bestiegen dann in Ostende den Schnellzug nach Heidelberg; über Sinsheim erreichten wir am späten Nachmittag unseren Heimatort Eppingen.

Für den zweiten und dritten Besuch Londons reisten noch drei Kollegen und eine Kollegin mit; da diese Exkursionen wiederum in den Faschingsferien stattfanden, mussten wir natürlich erneut alle privat versichert werden.

 

Eine kurze Anmerkung:

Wenn man sich während eines Schullandheimaufenthalts, bei einem Ausflug oder anderen Unternehmungen „legal“ verhalten würde, sollte man lieber zuhause bleiben, denn alles, was den Reiz solcher Unternehmungen ausmacht, ist verboten: Schwimmen, einen Sessellift oder eine Bergbahn zu besteigen, Bootfahren oder Bergsteigen.

Ich habe immer wieder gegen diese Vorschriften verstoßen, weil  ich bereits bei meinen ersten Projekten in Baiersbronn, Untergrombach und Bretten die Erfahrung gemacht hatte, dass sich Vertrauen in Kinder auszahlt, allerdings unter einer Bedingung: man muss sie informieren und aufklären, ihnen deutlich machen, was die Folgen ihres eventuellen Fehlverhaltens für sich selber, aber auch für mich als Verantwortlicher, sein könnten; sie müssen in nicht vorhersehbaren Situationen genau wissen, wie sie sich zu verhalten haben. Z.B. haben wir vor unseren Bergunternehmen in Südtirol (Drei Zinnen, Dürrenstein, Sarlkofl, Plätzwiese, Monte Piano, etc.) Themen wie „Gefahren der Berge“, „Wetter in den Bergen“ und „Notsignale in den Bergen“ im Unterricht intensiv behandelt.

Ich bin in den 37 Jahren nur einmal von einem unberechenbaren Einzelgänger enttäuscht worden, ansonsten war es meistens so, dass sich die Kinder nach ihrer „Freizeit“ bereits weit vor dem vereinbarten Zeitpunkt wieder am festgelegten Treffunkt einfanden. 

Ich denke, eine präzise Vorbereitung und Information haben - wie möglicherweise auch manchmal eine gewisse Portion Glück - dazu beigetragen, dass von den etwa 1800 Kindern, mit denen ich unterwegs war, niemand zu Schaden gekommen ist.

 

Da es mich im Zusammenhang mit diesem „Rückblick“ einfach interessiert hat, was da in knapp 40 Jahren alles zusammen gekommen ist, habe ich in den vorhandenen Alben, Berichten und sonstigen Unterlagen mal nachgeschaut und etwas bilanziert:

 

2-wöchige Aufenthalte:                     12

1-wöchige Aufenthalte:                      9

London-Fahrten (4 Tage):                  3

Bonn (3 Tage):                                   5

Stuttgart (1 Tag):                             5

Berlin (4 Tage):                                 3

Zelten (Bodensee-5 Tage):                 5

 

Dazu kommen noch über 100 Wanderungen und 12 Betriebsbesichtigungen.

12 Jahre habe ich die Fußball-AG an unserer Schule geleitet und bin mit den Buben in meinem Bus zu vielen Turnieren und „Olympia“-Spielen gefahren, ohne irgendwelche Kostenerstattung und Versicherung; man tat es einfach, ohne groß darüber nachzudenken.

Als dann aber ein Kollege, den ich gebeten hatte, vier Spieler in seinem BMW mitzunehmen, denselben zu Schrott gefahren hatte und von keiner Seite irgendwelche Unterstützung und Hilfe bekam, stoppte ich unverzüglich diese Fahrten und gab die Fußball-AG auf.

An ihre Stelle rückte dafür eine Tennis-AG, die ich einige Jahre leitete.

1984 trat ein Medium in mein Blickfeld, das mich bis heute beschäftigt: die „Computerei“.

Gegen meinen Rat wurde von der Schulleitung ein Klassenzimmer mit Amstrad-Schneidercomputern ausgestattet; sie waren etwas billiger als die von mir gewünschten Atari, mussten aber schon kurze Zeit danach durch PC mit Intel -Prozessoren ersetzt werden.

Ich kannte mich mit meinem Amiga 2000 aus, hatte aber von der Installation eines Netzwerkes, das 15 Einzelplätze und einen Zentralserver umfassen sollte, keine Ahnung.

Ich besorgte mir eine Menge Literatur, entnahm ihr auch einiges, konnte dann aber den Server mit seinen 15 Computern nicht in Gang bringen.

Erst als ich die Anschaffung eines IBM-Programms durchsetzen konnte, wurde es besser, und an den einzelnen Computern konnten die Kinder dann arbeiten.

Den eigentlichen Sinn und Zweck eines Netzwerkes - ein Zentralrechner bedient die angeschlossenen Einzelgeräte - konnte ich nicht realisieren; hauptsächlich verhinderten Hardwareprobleme ein optimales Arbeiten.

So musste ich alle Programminstallationen, Updates und Korrekturen an jedem der 15 PCs separat durchführen; ein Zeit und Energie verschlingender Aufwand (als ich 1998 aus dem Schuldienst ausschied, hatten sich 1400 Unterrichtsstunden angesammelt, die ich im Computerraum in meiner Freizeit verbracht hatte).

Im Herbst 1998 nahm mein „Lehrerleben“ ein abruptes Ende, ein Ende, das ich mir anders vorgestellt und gewünscht hätte.

Die enttäuschenden, verständnislosen und oft verletzenden Reaktionen großer Teile des Kollegiums haben mich viele Jahre belastet und deprimiert; ich bedauere nur, dass ich ihre Belanglosigkeit nicht früher verstanden habe. Möglicherweise hatte ich sie auch nicht entsprechend informiert, und Nichtwissen ist immer die Basis für Spekulationen.

Wie vergingen die letzten zwanzig Jahren?

Mit drei Worten: eindeutig zu schnell.

Wie reagierte ich nach meinem Arbeitsende?

 

Ich brach alles hinter mir ab.

Ich trat aus sämtlichen Vereinen aus, spielte kein Tennis mehr und verließ 10 Jahre lang kaum das Haus; auch die Schule habe ich nie wieder betreten, obwohl ich mich unzählige Male - meistens abends - auf dem Gelände herumtrieb.

Depressionen und Probleme mit meiner Pumpe blockierten nahezu alle Aktivitäten.

Als 2008 zwei weitere Stents implantiert waren, und ich mir 2010 mein erstes E-Bike (ein Flyer) gekauft hatte, änderte sich meine Situation zum Besseren.

Die letzten acht Jahre unternahmen wir auch wieder einige Reisen, meistens mit unserem „Adria-Bus“; 2014 und 2016 kamen vier weitere Stents hinzu, drei sind noch geplant.

Mein soziales Umfeld kann man immer noch als „äußerst reduziert“ einstufen, was ich gelegentlich bedauere, dessen Merkmale aber dann auch wieder schätze.

Die Arbeit an diesem Dokument und mit dem damit verbundenen Einblick in die ungeheure Daten- und Ereignisfülle von 78 Jahren hat u.a. die Erkenntnis gefestigt, dass man sich auf der „Zielgeraden“ befindet und das „Finale“ doch ungebremst näher rückt.

Trost eines Kollegen: “Jedes Finale kann auch in die Verlängerung gehen“.

Na, dann!

 

Mutter

 

Vater

Rosatante

Konrad, Rosa+Karl

Sieghard+Rosatante (1942 auf dem Giglberg)

August Krüger ("Augustonkel")

Sieghard+Gudrun

Helga+Gudrun

Karo

Elke

 

 

Sarlkofel (Toblach)

Sanella-Album

Auf Bali

A-Jugend (1957)

An der Gänsweide

Weidenbäume am Kohlbach im Wiesental

Finni, Milan und Lasse

Antje

Lasse Koos

Milan Koos

Richtfest 1971 (mit Walter+Kurt)

   

     

                            Am Kohlbach

 

                                                                                                Marcel+Antje Koos

Finni